Page - 178 - in Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
Image of the Page - 178 -
Text of the Page - 178 -
178 Teil I: Grundlegung
am Erleben sei das wichtigste, daà man es erlebe, und am Tun, daà man es tue, fÀngt
an, den meisten Menschen als eine NaivitÀt zu erscheinen. (MoE 150)
Die hier apostrophierte und vielzitierte âAuflösung des anthropozentrischen
Verhaltensâ (MoE 150) im Sinne der schon von Mach beschworenen âUnrett-
barkeit des Ichsâ28 bedeutet freilich keineswegs ein vollkommenes Verschwin-
den der âpersönlichen Eigenschaftenâ, denn âohne Zweifel wird man trotz-
dem durch sie bestimmt und besteht aus ihnen, auch wenn man mit ihnen
nicht einerlei istâ (MoE 148). Es ist also nicht der mit sich selbst identische
und in sich konsistente Mensch, aus dem sich seine unterschiedlichen âEigen-
schaftenâ erklĂ€ren, sondern im Gegenteil eine mehr oder minder kontingente
Konstellation allgemein menschlicher âEigenschaftenâ, die den Eindruck eines
individuellen und homogenen Menschen erst erweckt, wie bereits zitiert wur-
de.29 Musil hat diesen Gedanken bereits in seinen frĂŒhen Notizen zur âErzĂ€h-
lungstechnikâ entwickelt :
Menschen haben viele sozusagen zufÀllige Eigenschaften, die ihr Schicksal beeinflus-
sen können, mit ihnen selbst aber eigentlich nicht viel zu tun haben. Solche Eigen-
schaften hĂ€ngen lockerer an einem, man hat nie darĂŒber nachgedacht, warum und
wozu man sie hat, isoliert betrachtet, sind sie einem sogar fremd und bestimmen
doch oft das Àussere Schicksal, ja sind sogar am Aufbau des Wesentlichen beteiligt,
wenn man darĂŒber nachdenkt. z. B. die praktische GutmĂŒtigkeit theoretisch kalt-
scharfer Menschen. Es wird sogar bedeutende Menschen geben, die das meiste, was
sie tun, ohne Beziehung zu sich selbst tun. Umgekehrt ganz normale Lebewesen mit
lÀcherlichen Idealen und sittlichen Forderungen. Umgekehrt gibt es Menschen mit
starken praktischen WĂŒnschen, bei denen die intellektuelle AusprĂ€gung ganz gleich-
gĂŒltig ist. (M II/1/142â143 ; vgl. bereits M I/6/71)
Der erzÀhlerisch relevante Lebenslauf eines Menschen, sein persönlicher, fa-
miliÀrer und beruflicher Werdegang, zeigt sich von einer Vielzahl existenziell
kontingenter Ă€uĂerer Faktoren bestimmt, wie im fertiggestellten Roman eine
ErzÀhlerreflexion zur ontologischen ArbitraritÀt der Habitusentwicklung bzw.
der menschlichen âEigenschaftlichkeitâ nahelegt :
28 Nach der berĂŒhmten Formel in Mach : Die Analyse der Empfindungen, S. 20 : âDas Ich ist un-
rettbar.â Eine verbreitete Redensart wurde daraus durch die literarische Popularisierung Her-
mann Bahrs ; vgl. etwa Venturelli : Musil und das Projekt der Moderne, S. 201 f.
29 âWenn man das Wesen von tausend Menschen zerlegt, so stöĂt man auf zwei Dutzend Eigen-
schaften, Empfindungen, Ablaufarten, Aufbauformen und so weiter, aus denen sie alle bestehn.â
(MoE 66)
back to the
book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208