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184 Teil I: Grundlegung
aufgefaĂt, d. h. zur Residualkategorie erklĂ€rt, die das Produkt der Rollen in-
sofern ist, als diese, veranschaulicht im Bild der Rinnsale, sie ausgewaschen
haben.â39 Was Klaus Laermann bei dieser zutreffenden Beschreibung freilich
auĂer Acht lĂ€sst, ist die Analogie zwischen dem Bild der ausgewaschenen
âMuldeâ und jenem der gesellschaftlich definierten âHohlformâ, die Musil
bereits zur Veranschaulichung des âGestaltlosigkeitstheoremsâ herangezogen
hat.40 Sie steht fĂŒr seinen bewussten Verzicht auf jegliche Vorstellung einer
menschlichen Substanz, was fĂŒr Laermann ein Skandalon bedeutet : âDas je
Eigene der Menschen stellt sich dar als bloĂes GefÀà von ihnen unabhĂ€ngi-
ger, austauschbarer sozialer Verhaltensmuster.â41 Der ErzĂ€hler des Mann ohne
Eigenschaften hingegen sieht in der inneren Unbestimmtheit des Menschen
neben einer unabweisbaren Gefahr (vgl. unten) zugleich dessen gröĂtes Po-
tenzial :
Deshalb hat jeder Erdbewohner auch noch einen zehnten Charakter, und dieser ist
nichts als die passive Phantasie unausgefĂŒllter RĂ€ume ; er gestattet dem Menschen
alles, nur nicht das eine : das ernst zu nehmen, was seine mindestens neun andern
Charaktere tun und was mit ihnen geschieht ; also mit andern Worten, gerade das
nicht, was ihn ausfĂŒllen sollte. (MoE 34)
Es handelt sich beim âzehnten Charakterâ um den Bereich der bewussten
Selbstwahrnehmung, von der âalle Rolleninhalte nicht ernst genommen
und abgewiesenâ werden.42 Der damit angeblich einhergehende âReali
tÀts-
verlustâ43, den Laermann in kritischer Absicht konstatiert, indem er auf die
ĂŒberkommene Vorstellung einer objektiv existierenden und nicht hintergeh-
baren Wirklichkeit zurĂŒckgreift, kann indes positiv als romanesker âRaum der
Möglichkeitenâ44 bezeichnet werden :
Dieser, wie man zugeben muĂ, schwer zu beschreibende Raum ist in Italien anders
gefÀrbt und geformt als in England, weil das, was sich von ihm abhebt, andre Farbe
und Form hat, und ist doch da und dort der gleiche, eben ein leerer, unsichtbarer
Raum, in dem die Wirklichkeit darinsteht wie eine von der Phantasie verlassene
kleine Steinbaukastenstadt. (MoE 34)
39 Laermann : Eigenschaftslosigkeit, S. 12.
40 Vgl. GW 8, 1370 ; mehr dazu in Kap. I.2.1.
41 Laermann : Eigenschaftslosigkeit, S. 12.
42 Ebd., S. 12 f.
43 Ebd.
44 Vgl. Bourdieu : Die Regeln der Kunst, S. 166, 169, 367â375 u. passim.
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Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208