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194 Teil I: Grundlegung
Er ahnt : diese Ordnung ist nicht so fest, wie sie sich gibt ; kein Ding, kein Ich, keine
Form, kein Grundsatz sind sicher, alles ist in einer unsichtbaren, aber niemals ru-
henden Wandlung begriffen, im Unfesten liegt mehr von der Zukunft als im Festen,
und die Gegenwart ist nichts als eine Hypothese, ĂŒber die man noch nicht hinausge-
kommen ist. Was sollte er da Besseres tun können, als sich von der Welt freizuhalten,
in jenem guten Sinn, den ein Forscher Tatsachen gegenĂŒber bewahrt, die ihn verfĂŒh-
ren wollen, voreilig an sie zu glauben ? ! Darum zögert er, aus sich etwas zu machen ;
ein Charakter, Beruf, eine feste Wesensart, das sind fĂŒr ihn Vorstellungen, in denen
sich schon das Gerippe durchzeichnet, das zuletzt von ihm ĂŒbrig bleiben soll. (MoE
249 f.; vgl. MoE 1879)
Die Ablehnung etablierter Rollenmodelle durch den Mann ohne Eigenschaf-
ten erfolgt in der Absicht einer Ăberwindung der geltenden Wirklichkeit, ei-
ner produktiven Weiterentwicklung des gesellschaftlichen und intellektuellen
âRaums der Möglichkeitenâ.75 Darin â und nicht in einem hybriden Negativis-
mus76 â grĂŒndet auch seine nur oberflĂ€chlich an Nietzsches âDonjuanismus
der Erkenntnisâ erinnernde essayistische Lebenshaltung :
Er sucht sich anders zu verstehen ; mit einer Neigung zu allem, was ihn innerlich
mehrt, und sei es auch moralisch oder intellektuell verboten, fĂŒhlt er sich wie ei-
nen Schritt, der nach allen Seiten frei ist, aber von einem Gleichgewicht zum nÀch-
sten und immer vorwĂ€rts fĂŒhrt. Und meint er einmal, den rechten Einfall zu haben,
so nimmt er wahr, daĂ ein Tropfen unsagbarer Glut in die Welt gefallen ist, deren
Leuchten die Erde anders aussehen macht. (MoE 250)
Im Sinne dieses Projekts einer produktiven Ăberwindung der geltenden Wirk-
lichkeit hat man sich auch seinen dezidiert gesellschaftskritischen âHinweis
daraufâ vorzustellen, âdaĂ Erziehung bloĂ eine EinfĂŒhrung in das jeweils Ge-
genwÀrtige und Herrschende bedeute, das aus planlosen Vorkehrungen ent-
standen sei, weshalb man, um Geist zu gewinnen, vor allem erst ĂŒberzeugt
sein mĂŒsse, noch keinen zu haben !â (MoE 365) Generell spielt der keinen
vorgezeichneten Rollenmodellen und Denkschablonen folgende, durchaus
emphatisch konzipierte âGeistâ fĂŒr den Mann ohne Eigenschaften nicht die
negative Rolle eines bloĂen âWerte-ZertrĂŒmmerersâ, sondern eines âgroĂe[n]
Jenachdem-Macher[s]â, der durch seine relationale und empirische Heran-
gehensweise an die Dinge, auf die er sich zum Zweck ihrer reflexiven Durch-
75 Vgl. Kap. I.3.2.
76 Vgl. auch Blasberg : Krise und Utopie der Intellektuellen, S. 220.
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208