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200 Teil I: Grundlegung
und spezifische Reflexionskompetenz fĂŒr Aporien der sozialen âWirklichkeitâ
zuschreibt. Das berĂŒhmte 4. Romankapitel mit dem Titel âWenn es Wirklich-
keitssinn gibt, muĂ es auch Möglichkeitssinn gebenâ (MoE 16) setzt die sich
schon 1918 abzeichnende Tendenz in charakteristischer Weise fort : Musils
ErzÀhler definiert darin den Möglichkeitssinn zunÀchst in einer Erweiterung
des aristotelischen Dichtungsbegriffs92 und gut romantisch als âFĂ€higkeitâ, âal-
les, was ebenso gut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu
nehmen als das, was nicht istâ (MoE 16). Er erlĂ€utert diesen gleichsam invers-
soziologischen93, poetischen Gedanken wie folgt :
Wer ihn [den Möglichkeitssinn, N. C. W.] besitzt, sagt beispielsweise nicht : Hier ist
dies oder das geschehen, wird geschehen, muĂ geschehen ; sondern er erfindet : Hier
könnte, sollte oder mĂŒĂte geschehn ; und wenn man ihm von irgend etwas erklĂ€rt,
daà es so sei, wie es sei, dann denkt er : Nun, es könnte wahrscheinlich auch anders
sein. So lieĂe sich der Möglichkeitssinn geradezu als die FĂ€higkeit definieren, alles,
was ebensogut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen
als das, was nicht ist. (MoE 16)
Wie schon aus den hier verwendeten Verbformen âkönnte, sollte oder mĂŒĂteâ
hervorgeht, ist die adÀquate grammatische Ausdrucksform des Möglich-
keitssinns der Konjunktiv, der im Mann ohne Eigenschaften bekanntlich eine
zentrale Rolle spielt.94 FĂŒr Ulrich, den namensgebenden Protagonisten und
âMöglichkeitsmenschenâ, ist der Konjunktiv freilich ânicht allein ein Modus
des Verbumsâ, sondern âzugleich ein Modus der Existenzâ.95 Insofern ist der
92 Aristoteles : Poetik, Kap. 9 (1451a-b), S. 29, bestimmt, âdaĂ es nicht Aufgabe des Dichters ist
mitzuteilen, was wirklich geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen könnte, d. h. das nach
den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Mögliche. Denn der Geschichtsschrei-
ber und der Dichter unterscheiden sich [âŠ] dadurch, daĂ der eine das wirklich Geschehene
mitteilt, der andere, was geschehen könnte.â Mehr dazu in Kap. 24 u. 25, S. 83â89 (1460a-b). Zu
Aristotelesâ Möglichkeitsdenken vgl. etwa Schmidt : Die Geschichte des Genie-Gedankens, Bd.
1, S. 11 f. Die Kategorie der âNotwendigkeitâ erfĂ€hrt bei Musil freilich eine radikale Abwertung,
wie schon erwĂ€hnt wurde ; vgl. Kap. I.2.1 u. I.2.2. Zu Musils implizitem Bezug auf Aristotelesâ
Konzept der Dichtung bzw. auf dessen Aufwertung des Möglichen vgl. auch Krottendorfer :
Versuchsanordnungen, S. 14 f.
93 Im Interview definiert Bourdieu die Fragestellung der Soziologie unter anderem so :
âWie kommt es, daĂ die Dinge in unserer Gesellschaft so sind, wie sie sind, und nicht anders ?â
(Carles : Soziologie ist ein Kampfsport, 08 :23â08 :27)
94 Zu Musils âAnhĂ€nglichkeit an den Konjunktivâ, die er der um sich greifenden âBefreun-
dung mit dem Indikativâ entgegensetzt, vgl. die klassische Untersuchung von Schöne : Zum Ge-
brauch des Konjunktivs bei Musil, Zit. S. 19.
95 Ebd., S. 26 ; vgl. auch Bouveresse, Genauigkeit und Leidenschaft, S. 8 u. 28 f.
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208