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218 Teil I: Grundlegung
eben jene sachlich [âŠ] mit objektiver Notwendigkeit begrĂŒndete eindeutige Be-
stimmtheit, die hier geleugnet wird. FĂŒr eine solche Auffassung gĂ€be es dann keine
feste, sozusagen absolute Wahrheit, sondern nur eine in dem Sinne relative, daĂ ir-
gend eine Meinung gerade als so wahr zu gelten hat, als sie ihren Zweck, praktisch
hinreichend zu orientieren, erfĂŒllt. Mit anderen Worten : es gibt ĂŒberhaupt keine
Wahrheit im eigentlichen Sinne, sondern nur eine praktische, erhaltungsförderliche
Konvention. (BLM 34)
Wenn die eine, âabsolute Wahrheitâ durch eine zweckdienliche, ârelative [âŠ]
Konventionâ zu ersetzen ist, wie der junge Musil in einer pragmatischen Kon-
sequenz auch aus der rhetorischen Wahrheitskritik Nietzsches feststellt, dann
verliert ein ontologischer Vorrang der Wirklichkeit gegenĂŒber der Möglichkeit
jegliche Grundlage.146 Es ist also durchaus die skeptische Haltung der Wis-
senschaft gegenĂŒber den gegebenen Dingen, die der ErzĂ€hler des Mann ohne
Eigenschaften fĂŒr den essayistischen Weltzugang adaptiert, nicht aber der in der
akademischen Philosophie vorherrschende begriffslogisch-systematische An-
satz, den Musil bereits als Wissenschaftler entschieden problematisiert hatte.147
146 Dabei bleibt freilich zu bedenken, dass zwar kein ontologischer, sehr wohl aber ein durch die
soziale Konvention bestimmter Vorrang der herrschenden Wirklichkeit existiert, der nicht ein-
fach in Abrede gestellt werden kann, ohne einem kruden Romantizismus zu verfallen. Dieser
Vorrang allerdings erscheint immer als ontologisch begrĂŒndet und erweist sich somit als Doxa
einer angeblich ahistorischen Natur. Genau diese Doxa wird nun in Musils Roman konsequent
erzÀhlerisch dekonstruiert.
147 Der ErzÀhler legt somit nicht nur die von Gaston Bachelard beschriebene coupure epistémolo-
gique an den Tag â den wissenschaftlichen Bruch mit der alltĂ€glichen Welt durch eine skepti-
sche Grundhaltung â, sondern vollzieht zudem einen weiteren Bruch mit ebendiesem Bruch
durch die essayistische Relativierung bzw. ErgÀnzung wissenschaftlicher Skepsis. Hintergrund
dieses âdoppelten Bruchsâ ist die von Musil diagnostizierte Tendenz wissenschaftlicher Objekti-
vitÀt, die ihr zugrunde liegende soziale und historische Konvention vergessen zu machen. Musil
stellt das abstrakte Denken als eine spezifisch wissenschaftliche Doxa dar, die in der modernen
Welt erst durch den Bruch mit dem Common Sense entsteht, d. h. als Glaube an ein Denken,
das seine eigenen Bedingungen allem Anschein nach offenzulegen vermag, weil es alle Selbst-
verstÀndlichkeiten anzweifelt. Das produktive Vermögen der essayistischen Haltung, die indes
nicht nur auf einem radikalisierten Zweifel beruht, sondern auch auf einer BerĂŒcksichtigung
der konstitutiven Leistung von Trieben und Affekten, betrifft nun genau jenen Kontext, der
der wissenschaftlichen Skepsis selbst zugrunde liegt, ihr aber nicht bewusst wird, solange sie
nur auf abstrakte Formalisierungen abzielt. Die affektiven Elemente bleiben gerade in streng
begriffslogischen Systemen immer nur implizit und stets verborgen. Wissenschaftliche Skep-
sis produziert demnach den neuen Mythos eines vollkommen âreinenâ Denkens, das auch die
Möglichkeitsbedingungen der eigenen Existenz reflektieren und in der Folge neutralisieren
könne, und verdrÀngt dabei systematisch die kontingenten und jeweils einer bestimmten histo-
rischen Situation entsprungenen Anteile dieser Haltung.
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208