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Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
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Seite - 218 - in Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts

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218 Teil I: Grundlegung eben jene sachlich [
] mit objektiver Notwendigkeit begrĂŒndete eindeutige Be- stimmtheit, die hier geleugnet wird. FĂŒr eine solche Auffassung gĂ€be es dann keine feste, sozusagen absolute Wahrheit, sondern nur eine in dem Sinne relative, daß ir- gend eine Meinung gerade als so wahr zu gelten hat, als sie ihren Zweck, praktisch hinreichend zu orientieren, erfĂŒllt. Mit anderen Worten : es gibt ĂŒberhaupt keine Wahrheit im eigentlichen Sinne, sondern nur eine praktische, erhaltungsförderliche Konvention. (BLM 34) Wenn die eine, „absolute Wahrheit“ durch eine zweckdienliche, „relative [
] Konvention“ zu ersetzen ist, wie der junge Musil in einer pragmatischen Kon- sequenz auch aus der rhetorischen Wahrheitskritik Nietzsches feststellt, dann verliert ein ontologischer Vorrang der Wirklichkeit gegenĂŒber der Möglichkeit jegliche Grundlage.146 Es ist also durchaus die skeptische Haltung der Wis- senschaft gegenĂŒber den gegebenen Dingen, die der ErzĂ€hler des Mann ohne Eigenschaften fĂŒr den essayistischen Weltzugang adaptiert, nicht aber der in der akademischen Philosophie vorherrschende begriffslogisch-systematische An- satz, den Musil bereits als Wissenschaftler entschieden problematisiert hatte.147 146 Dabei bleibt freilich zu bedenken, dass zwar kein ontologischer, sehr wohl aber ein durch die soziale Konvention bestimmter Vorrang der herrschenden Wirklichkeit existiert, der nicht ein- fach in Abrede gestellt werden kann, ohne einem kruden Romantizismus zu verfallen. Dieser Vorrang allerdings erscheint immer als ontologisch begrĂŒndet und erweist sich somit als Doxa einer angeblich ahistorischen Natur. Genau diese Doxa wird nun in Musils Roman konsequent erzĂ€hlerisch dekonstruiert. 147 Der ErzĂ€hler legt somit nicht nur die von Gaston Bachelard beschriebene coupure epistĂ©molo- gique an den Tag – den wissenschaftlichen Bruch mit der alltĂ€glichen Welt durch eine skepti- sche Grundhaltung –, sondern vollzieht zudem einen weiteren Bruch mit ebendiesem Bruch durch die essayistische Relativierung bzw. ErgĂ€nzung wissenschaftlicher Skepsis. Hintergrund dieses ‚doppelten Bruchs‘ ist die von Musil diagnostizierte Tendenz wissenschaftlicher Objekti- vitĂ€t, die ihr zugrunde liegende soziale und historische Konvention vergessen zu machen. Musil stellt das abstrakte Denken als eine spezifisch wissenschaftliche Doxa dar, die in der modernen Welt erst durch den Bruch mit dem Common Sense entsteht, d. h. als Glaube an ein Denken, das seine eigenen Bedingungen allem Anschein nach offenzulegen vermag, weil es alle Selbst- verstĂ€ndlichkeiten anzweifelt. Das produktive Vermögen der essayistischen Haltung, die indes nicht nur auf einem radikalisierten Zweifel beruht, sondern auch auf einer BerĂŒcksichtigung der konstitutiven Leistung von Trieben und Affekten, betrifft nun genau jenen Kontext, der der wissenschaftlichen Skepsis selbst zugrunde liegt, ihr aber nicht bewusst wird, solange sie nur auf abstrakte Formalisierungen abzielt. Die affektiven Elemente bleiben gerade in streng begriffslogischen Systemen immer nur implizit und stets verborgen. Wissenschaftliche Skep- sis produziert demnach den neuen Mythos eines vollkommen ‚reinen‘ Denkens, das auch die Möglichkeitsbedingungen der eigenen Existenz reflektieren und in der Folge neutralisieren könne, und verdrĂ€ngt dabei systematisch die kontingenten und jeweils einer bestimmten histo- rischen Situation entsprungenen Anteile dieser Haltung.
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Kakanien als Gesellschaftskonstruktion Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
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Titel
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Untertitel
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
Autor
Norbert Christian Wolf
Verlag
Böhlau Verlag
Ort
Wien
Datum
2011
Sprache
deutsch
Lizenz
CC BY-NC-ND 3.0
ISBN
978-3-205-78740-2
Abmessungen
15.5 x 23.0 cm
Seiten
1224
Schlagwörter
Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
Kategorie
Geisteswissenschaften

Inhaltsverzeichnis

  1. Vorbemerkung 9
  2. Einleitung 11
    1. 1. Vom Scheitern eines Großkritikers : Aporien der Literaturkritik 11
    2. 2. Die MĂŒhen der Literaturwissenschaft : Aporien der Forschung 20
  3. TEIL I : GRUNDLEGUNG
    1. 1. Grundlagen der Untersuchung 43
      1. 1.1 Vorstellung der Methode : Bourdieus Sozioanalyse literarischer Texte 43
      2. 1.2 Methodologische EinwÀnde : Kritik der Sozioanalyse 58
    2. 2. Grundlagen der Poetik Musils 64
      1. 2.1 Der Mensch ohne Eigenschaften : ‚Gestaltlosigkeit‘ als ‚negative‘ Anthropologie 64
      2. 2.2 ‚Gestaltlosigkeit‘ und Romantext als Gesellschaftskonstruktion 80
    3. Gesellschaft im Roman 82
    4. Roman als Konstruktion 101
    5. Da capo : Angemessenheit und Vorgehensweise der Sozioanalyse 124
      1. 2.3 Medienkonkurrenz : Essayistisches vs. filmisches ErzÀhlen (Musil kontra Balåzs) 129
    6. 3. Grundbegriffe des Romankonzepts 165
      1. 3.1 Eigenschaftslosigkeit 165
      2. 3.2 Möglichkeitssinn und Essayismus 199
  4. TEIL II : ROMANTEXT ALS KRÄFTEFELD
    1. 1. „Versuchsstation des Weltuntergangs“ : Chronotopos und sozialer Raum 261
      1. 1.1 SelbstreferenzialitĂ€t und Außenreferenz : Das Eingangskapitel 261
      2. 1.2 Ein Land ohne Eigenschaften – Kakanien als Modell 282
      3. 1.3 Das Feld der Macht im Mann ohne Eigenschaften 300
    2. 2. „Zeitfiguren“ 1913/1930 „am gesellschaftlichen Schachbrett“ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
      1. 2.1 MĂ€nner 334
    3. Erben und Enterbte 344
    4. Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) – Der Dilettant Walter 347
    5. Mann mit Eigenschaften 378
    6. Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
    7. Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
    8. Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
    9. Aufsteiger und Gebremste 482
    10. Realpolitik als ‚Antiessayismus‘ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) – Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und ‚Jude‘ 501
    11. Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
    12. Terroristen und Propheten 548
    13. Forcierte ‚Eigenschaftlichkeit‘ : Der Antisemit Hans Sepp 558
    14. eingast, Faschist und Schwerenöter 584
    15. Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist Schmeißer 601
    16. Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem „Geiste des Expressionismus“ 613
      1. 2.2 Frauen 635
    17. Gefallene Geliebte 643
    18. Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
    19. Petrifizierte ‚Eigenschaftlichkeit‘, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
    20. Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
    21. Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
    22. Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
    23. Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
    24. Angepasste und Dissidentinnen 708
    25. Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
    26. Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
    27. 3. „Die falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaft“ : Konstellationen und Interaktionen 768
      1. 3.1 Gemischtgeschlechtliche Konstellationen : MĂ€nner und Frauen im 20. Jahrhundert 771
    28. Ehen in der Krise 781
    29. Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die „TrĂ€ger des Zeit- wandels“ Walter und Clarisse 788
    30. Von der physiologischen „Zwangsherrschaft“ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
    31. Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
    32. Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
    33. Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der ‚schönen Seele‘ : Ulrich und Bonadea 825
    34. Coitus interruptus als „Lustselbstmord“ : Ulrich und Gerda 844
    35. Liebesversuche jenseits der Ehe 885
    36. Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
    37. Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
    38. Liebe à la hausse, platonische „Begegnung zweier Berggipfel“ : Diotima und Arnheim 908
    39. Die „letzte Liebesgeschichte“ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
    40. 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
    41. Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
    42. Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, Preußen gegen Österreich 1005
    43. Der Intellektuelle und der Großschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
    44. Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
    45. Entgegengesetzte „Exponenten des Zeitgeistes“ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
    46. BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
  5. BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und Schmeißer 1086
  6. TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
    1. 1. Der Mann ohne Eigenschaften im zeitgenössischen literarischen Feld 1099
      1. 1.1 ‚Negative‘ Anthropologie als literaturpolitischer Einsatz 1101
      2. 1.2 Poetik des Essayismus – Musils vielfacher Bruch 1130
    2. 2. Autor und Romanheld in der Moderne – Musils indirekte Selbstanalyse 1152
  7. Literaturverzeichnis 1169
  8. Musil-Texte 1169
  9. Andere Quellen 1169
  10. Nachschlagewerke 1176
  11. Allgemeine Forschungsliteratur 1176
  12. SekundÀrliteratur zu Musil 1193
  13. Register 1208
    1. 1. Personen 1208
    2. 2. Literarische Figuren 1214
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