Seite - 101 - in Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
Bild der Seite - 101 -
Text der Seite - 101 -
101Grundlagen
der Poetik Musils
Roman als Konstruktion
Die hier vorgeschlagene LektĂŒre des Romans als Gesellschaftskonstruktion
hat neben der geschĂ€rften Aufmerksamkeit fĂŒr verschiedene Aspekte des So-
zialen im Medium des Textes freilich noch eine zweite wichtige Implikation,
wodurch sich ihre Programmatik von den widerspiegelungstheoretischen
AnsĂ€tzen verschiedenster AusprĂ€gung unterscheidet : Ebenso maĂgeblich
wie die Komponente des Sozialen ist ihr dessen textuelle Konstruiertheit, die
â teils bewusst, teils unbewusst â durch einen selbst sozial situierbaren Autor
erfolgt und zutiefst von dessen sozialen sowie intellektuellen Dispositionen
geprĂ€gt erscheint. So ist fĂŒr den gestalttheoretisch versierten Musil die âRolle
der Form im geistigen und kĂŒnstlerischen Ausdruckâ von zentraler Bedeu-
tung ; sein eigener âVersuchâ im Bereich des modernen Romans sei deshalb im
Unterschied zu den formalen Auflösungstendenzen, die er bei ErzÀhlern wie
James Joyce und Marcel Proust wahrzunehmen meint (vgl. GW 8, 1210 f.; BrN
13 f.), âeher konstruktiv und synthetisch zu nennenâ, wie er im Brief an Johan-
nes von Allesch vom 15. MĂ€rz 1931 feststellt (Br 1, 504). Bereits im Fontana-
Interview war dementsprechend vom âVersuch einer Auflösung und Andeu-
tung einer Syntheseâ die Rede gewesen (GW 7, 942). Damit ist keineswegs
ein harmonisierender Verzicht auf die andernorts beanspruchte schonungslose
analytische Durchdringung gemeint, sondern eben das Streben nach einer
mehr konstruktiven als destruktiven Àsthetischen Form, die auch die Umset-
zung von Musils emphatischem kĂŒnstlerischen Erkenntnisanspruch gewĂ€hr-
leisten soll. DarĂŒber hinaus hat die beschworene KonstruktivitĂ€t der Synthese
eine eminent wirkungsĂ€sthetische Funktion, weil sie die âzersetzendeâ Analyse
psychologisch ertrÀglicher werden lÀsst ; am Beispiel eines am eigenen Leib
erlittenen zahnĂ€rztlichen Eingriffs, dessen einzelne Elemente fĂŒr sich jeweils
eine unertrĂ€gliche Vorstellung bilden, die erst durch ihre âformelhafte VerkĂŒr-
zungâ zum âKomplex âWurzelbehandlungâ [âŠ] als TotalitĂ€t hingenommen
wird und als solche nicht mehr beunruhigtâ, stellt Musil kurz nach Abschluss
des ersten Romanbuchs am 30. August 1930 im Arbeitsheft 30 fest :
Wir bilden sozusagen eine geschlossene OberflÀche aus alledem, was uns
angeht. Oder eine glatte, aus der nichts hervorsteht.[87] Unser Interesse ver-
langt, die Analyse zu vermeiden, und wir gewöhnen uns erst dann an sie,
wenn sie uns eine bessere Synthese verspricht. Darum die Abneigung des
87 In der Nachlasstranskription der digitalen Klagenfurter Ausgabe steht hier fĂ€lschlich âhervor-
gehtâ (H 30/42).
zurĂŒck zum
Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208