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344 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
radikaler Negierung oder emphatischer Affirmation herrschender VerhÀltnisse
angesiedelt ist und jeweils auf die individuell erworbenen, unterschiedlichen
Kapital- und Habitusstrukturen zurĂŒckgefĂŒhrt werden kann. Zur genaueren
Bestimmung der konkreten Ausformung von âAnalogie und Variationâ scheint
es daher angebracht, zunÀchst die Kapital- und Habitusausstattung des zent-
ralen Protagonisten Ulrich zu rekonstruieren, um dann in der Folge jene der
anderen Figuren kontrastiv zu entwickeln. Bevor dies geschieht, muss indes
knapp die bereits angesprochene65, fĂŒr die ersten der folgenden Analysen zen-
trale Problematik des sozialen âErbesâ rekapituliert werden.
Erben und Enterbte
Beim mÀnnlichen Romanpersonal manifestiert sich die zwischen den Extre-
men radikaler Negierung und emphatischer Affirmation angesiedelte Diffe-
renz der Strategien gegenĂŒber der bestehenden Wirklichkeit insbesondere im
Verhalten gegenĂŒber dem âsozialen Erbeâ.66 Dieses nimmt in der modernen
Welt die Form eines ganz spezifischen Transformationsprozesses an, dessen
Aufgabe in der krisenbestÀndigen Sicherung familiÀrer KontinuitÀt besteht :
In ausdifferenzierten Gesellschaften stellt sich die fĂŒr jede Gesellschaft fundamentale
Frage der Erbfolge, also des Umgangs mit den Eltern-Kind-Beziehungen, oder, ge-
nauer gesagt, die Frage der Sicherung des Fortbestands der Abstammungslinie und
ihres Erbes im weitesten Sinne, sicherlich auf eine ganz besondere Weise. [âŠ] Das
zentrale Element des vÀterlichen Erbes besteht zweifellos darin, den Vater, als denje-
nigen, der in unseren Gesellschaften die Abstammungslinie verkörpert, fortleben zu
lassen, also eine Art âTendenz, ein Fortdauern zu sichernâ, seine gesellschaftliche Position
zu perpetuieren. In vielen FĂ€llen muĂ man sich hierfĂŒr vom Vater unterscheiden, ihn
ĂŒbertreffen und in gewissem Sinne negieren. Dies geht nicht ohne Probleme vonstat-
ten, und zwar einerseits fĂŒr den Vater, der dieses mörderische Ăbertroffenwerden
durch seinen Nachkommen gleichzeitig wĂŒnscht und fĂŒrchtet, und andererseits fĂŒr
den Sohn, der sich mit einer Mission beauftragt sieht, die ihn zu zerreiĂen droht und
die als eine Art Transgression erlebt werden kann.67
65 Vgl. dazu Kap. II.1.3.
66 Da die weiblichen Figuren im Rahmen der erzÀhlten Welt des Mann ohne Eigenschaften stark
patriarchalischen Strukturen ausgesetzt sind und sich sozial in erster Linie ĂŒber ihre mĂ€nnlichen
Partner definieren, spielt das âsoziale Erbeâ bei ihnen eine zumeist indirektere â was nicht heiĂen
muss : marginalere â Rolle ; vgl. allerdings im Kap. II.2.2 die einschlĂ€gigen AusfĂŒhrungen zu
Gerda sowie vor allem zu Agathe.
67 Bourdieu : WidersprĂŒche des Erbes, S. 651. In diesem Zusammenhang sei betont, dass Bour-
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208