Seite - 20 - in Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
Bild der Seite - 20 -
Text der Seite - 20 -
20 Einleitung
mit Eckhard Heftrichs Monografie auch eine der „wichtigsten Publikationen
über Musil“ „konsequent ignoriert, wenn nicht als Skandal empfunden“ hät-
ten.43 Reich-Ranicki, der die Musil-Forschung wiederholt der Intoleranz be-
zichtigt44, dekretiert kategorisch über jede Lektüre des Mann ohne Eigenschaf-
ten : „Wer nicht Masochist ist, der muß früher oder später kapitulieren.“45 Der
Verfasser der vorliegenden Arbeit wird damit leben müssen, unter solchen
Vorzeichen als Masochist zu erscheinen, zumal er sich nicht nur bei seiner
Musil-Lektüre vergnügt, sondern überdies selber ähnlich ‚ungenießbare‘ Kost
auf vielen hundert Seiten produziert hat (was aber eher dem Sadismus zuzu-
schlagen wäre). Am Ende seiner Polemik gegen den Mann ohne Eigenschaften
fasst Reich-Ranicki das (angebliche) Scheitern Musils in eine griffige Formel :
„[W]ir haben es mit Prosa ohne Charme und Aura, ohne Poesie zu tun.“46
Das sei allerdings kein Grund zur Beunruhigung, denn : „Das Buch ist verblaßt
und verstaubt und […] mittlerweile auch mehr oder weniger vergessen.“47 Bei
dieser Feststellung ist offenbar ein Wunsch der Vater des Gedankens. Die hier
vorgelegte Untersuchung macht sich zur Aufgabe, das Gegenteil zu zeigen.
2. Die Mühen der Literaturwissenschaft : Aporien der
Forschung
Die Musil-Forschung, insbesondere die Forschung zum epochalen Roman
Der Mann ohne Eigenschaften, ist längst unübersehbar geworden.48 Insofern
verspricht es wenig, einer weiteren einschlägigen Arbeit einen ausführlichen
43 Ebd., S. 175. Warum die wenig innovative Überblicksdarstellung Heftrichs so bedeutend sein
soll, erschließt sich erst auf deren abschließenden Seiten, wo festgestellt wird, dass Musil sich in
seinem Roman „immer mehr verlor“ und dass sein Versuch einer „Vereinigung von Ratio und
Mystik“ die Kunst „überforderte“. Heftrich formuliert folgendes Fazit : „Gäbe es im zwanzigsten
Jahrhundert außer Musil nur die zahlreichen Kleineren, die mit all ihren abgeschlossenen und
gerundeten Werken weit unter ihm liegen, so müßte man seinem Scheitern die Weihe der ge-
schichtsphilosophischen Notwendigkeit zugestehen. Doch es gibt die anderen Großen, die auch
Unmögliches begehrt und also auf ihre Weise nicht weniger gewagt haben, ohne zu scheitern.“
(Heftrich : Musil, S. 154 f.) Es liegt beim Thomas-Mann-Forscher und -Laudator Heftrich auf
der Hand, wer damit gemeint ist. Die Auseinandersetzungen der Kritiker und Literaturwissen-
schaftler über ihre jeweiligen Idole befinden sich bisweilen auf dem Niveau des Streits darüber,
ob nun die Beatles oder die Rolling Stones die bessere Band seien.
44 Vgl. Reich-Ranicki : Der Zusammenbruch eines großen Erzählers, S. 171 u. 174 f.
45 Ebd., S. 171.
46 Ebd., S. 202.
47 Ebd., S. 197 f.
48 So schon im Jahr 1995 Honold : Die Stadt und der Krieg, S. 14.
zurück zum
Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRÄFTEFELD
- 1. „Versuchsstation des Weltuntergangs“ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. „Zeitfiguren“ 1913/1930 „am gesellschaftlichen Schachbrett“ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) – Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als ‚Antiessayismus‘ : Der Funktionär Tuzzi (489) – Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und ‚Jude‘ 501
- Ein trojanisches Pferd des Militärs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte ‚Eigenschaftlichkeit‘ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist Schmeißer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem „Geiste des Expressionismus“ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte ‚Eigenschaftlichkeit‘, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. „Die falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaft“ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der Geschlechteridentitäten : Die „Träger des Zeit- wandels“ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen „Zwangsherrschaft“ zur wissenschaftlichen Eheführung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche Verhältnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der ‚schönen Seele‘ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als „Lustselbstmord“ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frühes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe à la hausse, platonische „Begegnung zweier Berggipfel“ : Diotima und Arnheim 908
- Die „letzte Liebesgeschichte“ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne Männerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, Preußen gegen Österreich 1005
- Der Intellektuelle und der Großschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte „Exponenten des Zeitgeistes“ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- Bildungsbürger contra Kleinbürger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- Bildungsbürger contra Proletarier : Ulrich und Schmeißer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- Sekundärliteratur zu Musil 1193
- Register 1208