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âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ 799
idealtypischer Weise verkörpert. Nicht zuletzt das ist der Grund dafĂŒr, dass sie
fĂŒr Musil und seinen ErzĂ€hler gemeinsam mit ihrem wagnerianisch gesinnten
Gatten Walter zu den âintensivsten TrĂ€gern des Zeitwandelsâ zĂ€hlt. FĂŒr Ulrich
hingegen, der sich gerade âein Jahr Urlaub von seinem Lebenâ (MoE 47) ge-
nommen hat, fungieren die beiden als âPrĂŒfstein des vergangenen wie des zu-
kĂŒnftigen Lebensâ95. Ein Beispiel dafĂŒr nennt Arntzen in seinem Musil-Kom-
mentar : âWalter und Clarisse lassen die Grundformen des falschen Verhaltens
zur Sprache erfahren, die individuell als eine bestimmte Bereitschaft erscheint :
als Bereitschaft zur Anpassung und als Bereitschaft zum Wahn.â96 Ulrich selbst
fasst diese Problematik in den âHeiligen GesprĂ€chenâ mit Agathe in die sicht-
lich an Nietzsche geschulte, aber dennoch den populÀren Nietzscheanismus
ĂŒberwindende Formel, dass âjedes Wort wörtlich genommen werdenâ wolle,
âsonst verwest es zur LĂŒge, aber man darf keines wörtlich nehmen, sonst
wird die Welt ein Tollhaus !â (MoE 749) Beide âSprachspieleâ â das angepasst
konventionelle und das kompromisslos wortmagische â stellen aus der Pers-
pektive Musils zeittypische Gefahren dar, die der âeigenschaftsloseâ Essayist
Ulrich konsequent zu meiden sucht. Auch hier vollzieht er wiederum eine
âdoppelte Distinktionâ.
Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen
EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi
Die von Corino so anschaulich gezeichnete Ehe zwischen Hermann und
Eugenie Schwarzwald inklusive Maria Stiasny als Dritte im Bund97 konnte
kaum als auĂerliterarisches Modell, sondern allenfalls als biografische Nega-
tivfolie fĂŒr die romaneske Gestaltung des Hauses Tuzzi dienen, denn ein mehr
als imaginĂ€res DreiecksverhĂ€ltnis â dessen verwaisten dritten Pol im Ăbrigen
keine Frau, sondern mit Arnheim ein Mann bildet â ist hier nirgends sichtbar.
Dennoch hat die Ehe der Tuzzis durchaus eine zeittypische Signatur fĂŒr die
95 Howald : Ăsthetizismus und Ă€sthetische Ideologiekritik, S. 232.
96 Arntzen : Musil-Kommentar, S. 108. Weiter heiĂt es da : âWalters Bereitschaft zur Anpassung
geht ebenso auf eine Entscheidung [?] zurĂŒck wie Clarisses Bereitschaft zum Wahn. Walters
Bereitschaft zur Anpassung bedeutet die Wahl der Sprache als Konvention und nichts anderes.
Sein Denken ist das individualisierte [?] der Parallelaktion, das Gerede als behauptete Synthese.
Clarisses Bereitschaft zum Wahn bedeutet die Wahl der Sprache als ihr allein eigentĂŒmlicher, ja
als Vorstufe von Unmittelbarkeit. Sie ist auf dem Weg zu Moosbrugger. [âŠ] Keiner der beiden
aber lĂ€Ăt davon irgend etwas zu seinem BewuĂtsein kommen, er sperrt sich dagegen bis zum
Selbstverlust.â Unklar bleibt in dieser Argumentation, inwiefern eine âEntscheidungâ zur âAn-
passungâ oder zum âWahnâ im Unbewussten fallen kann.
97 Vgl. Corino : Musil [2003], S. 866 f.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208