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âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ 885
auch eine gewichtige literaturpolitische Funktion erfĂŒllt : Im fiktionalen Me-
dium des Romans dient die fortschreitende âEntpanzerung des Ichâ (MoE
555) zumindest des mÀnnlichen Protagonisten nicht zuletzt der Àsthetischen
Distinktion von den um 1930 herrschenden Anthropologien und Poetiken der
Neuen Sachlichkeit.310
Liebesversuche jenseits der Ehe
Die wohl gröĂte Herausforderung fĂŒr eine Deutung des Mann ohne Eigenschaf-
ten als gleichsam sozioanalytische Gesellschaftskonstruktion im Rahmen eines
Romans besteht in der fĂŒr Musil zentralen Thematik des âanderen Zustandsâ311
(âa. Z.â) bzw. der Mystik312, die von der ErzĂ€hlinstanz in eine strukturelle Analo-
gie zu den Erscheinungsformen der Liebe gesetzt wird. Das latente oder mani-
feste BedĂŒrfnis sĂ€mtlicher Romanfiguren nach âmotivierterâ Existenz und nach
einer Aufhebung der âScheidungen des Menschentumsâ (MoE 125 u. 1658)
ist nĂ€mlich dem Gestaltlosigkeitstheorem zufolge auf die sozialen âUmstĂ€ndeâ
zurĂŒckzufĂŒhren, in denen und gegen die es sich herausgebildet hat. Dies gilt
natĂŒrlich zuvorderst â aber eben nicht ausschlieĂlich â fĂŒr Ulrich, ĂŒber den es
gegen Ende des Ersten Buchs heiĂt : â[E]r kam sich jetzt nur noch wie ein durch
die Galerie des Lebens irrendes Gespenst vor, das voll BestĂŒrzung den Rahmen
nicht finden kann, in den es hineinschlĂŒpfen sollâ (MoE 648). Die Metaphorik
des âRahmensâ lĂ€sst hier an die bereits zitierte Hohlformmetapher denken, mit
der Musil im Essayfragment Der deutsche Mensch als Symptom sein âTheorem von
der menschlichen Gestaltlosigkeitâ veranschaulicht : âDer Mensch existiert nur
in Formen, die ihm von auĂen geliefert werden. âEr schleift sich an der Welt abâ,
310 Vgl. dazu Kap. III.1.
311 Genaueres dazu findet sich im bereits mehrmals zitierten Essay AnsĂ€tze zu neuer Ăsthetik. Be-
merkungen ĂŒber eine Dramaturgie des Films (bes. GW 8, 1144 f.) ; vgl. insbesondere die AusfĂŒh-
rungen am Ende des vorausgehenden Kapitels sowie im ausfĂŒhrlichen letzten Abschnitt des
gegenwÀrtigen.
312 Die Begriffsverwendungen von âMystikâ und âNeomystikâ folgen den terminologischen KlĂ€-
rungen im Standardwerk von Spörl : Gottlose Mystik, S. 9â27, bes. S. 26 f.: ââNeomystischâ soll
[âŠ] heiĂen, was als Erfahrung oder Erlebnis [âŠ] der mystischen unio (oder der spekulativen
Mystik) strukturell gleicht, ohne auf einen persönlichen Gott oder einen anderen transzendenten
Gegenstand bezogen zu sein. [âŠ] Der wesentliche Gegensatz von mystischer Erfahrung und
neomystischem Erlebnis besteht also vor allem darin, daĂ der Gegenstand der Mystik trans-
zendent ist und erst in der unio-Erfahrung immanent gegeben ist, wÀhrend der Gegenstand
der Neomystik von vorneherein weltimmanent ist, aber dennoch durch das neomystische
Erlebnis oder die neomystische Betrachtungsweise andere, fĂŒr gewöhnlich vom erlebenden
Subjekt höher bewertete QualitĂ€ten an dem jeweiligen Gegenstand zum Vorschein kommen.â
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208