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378 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
könnte.156 WĂ€hrend der einsame Sohn seinen âMöglichkeitssinnâ in Abwehr
gegen den Vater schon frĂŒh und ganz allein entwickelt, bleiben seine affekti-
ven BedĂŒrfnisse und Vermögen ĂŒber lange Zeit verschĂŒttet und können sich
selbst im Zweiten Buch des Mann ohne Eigenschaften nur gegen WiderstÀnde
entfalten.
Der Dilettant Walter, Mann mit Eigenschaften
Auch Walter, der ĂŒber weite Strecken nach dem biografischen Modell von
Musils Jugendfreund Gustav Donath gestaltet ist157, hat ZĂŒge von âEigen-
schaftslosigkeitâ, wie der ErzĂ€hler bereits im ersten einschlĂ€gigen Kapitel Ju-
gendfreunde andeutet : âEs wĂ€re schwer zu sagen gewesen, was Walter wirklich
war.â Die Charakterisierung fĂ€hrt indes vieldeutig fort : âEr war ein angeneh-
mer Mensch mit sprechenden, gehaltvollen Augen, noch heute, soviel stand
festâ (MoE 50). Walters vorderhand sympathisch wirkende Erscheinung steht
in einem recht komplexen VerhÀltnis zu seiner sozialen Position. Was sein
Alter betrifft, erwĂ€hnt der ErzĂ€hler, dass Walter âdas vierunddreiĂigste Jahr
schon ĂŒberschritten hatteâ (MoE 50) ; er ist zu Beginn der BasiserzĂ€hlung also
zwei Jahre Ă€lter als Ulrich, was in diesem fĂŒr die Befestigung einer bĂŒrgerli-
chen Rolle wichtigen Lebensabschnitt, in dem jedes Jahr zÀhlt, auch auf eine
fortgeschrittenere berufliche Laufbahn schlieĂen lĂ€sst. TatsĂ€chlich war Walter
âseit einiger Zeit [âŠ] in irgendeinem Kunstamt angestelltâ, wie es mit leicht
wegwerfender Geste heiĂt. Seine scheinbar gut situierte Stellung hat nĂ€mlich
einen charakteristischen Haken, den der ErzÀhler in der Folge nicht verheim-
licht : âSein Vater hatte ihm diese bequeme Beamtenstellung verschafft und
die Drohung damit verknĂŒpft, daĂ er ihm seine GeldunterstĂŒtzung entziehen
werde, wenn er sie nicht annehme.â (MoE 50) Ăhnlich wie bei Ulrich und
auch bei Arnheim â wie noch zu zeigen sein wird â figuriert hier ein starker
Vater, der den vom familiÀren ökonomischen Kapital abhÀngigen Sohn dazu
zwingt, sein Erbe anzutreten, sich der paternalistischen Protektion zu bedie-
nen und sich somit auch das soziale Kapital des Vaters zu eigen zu machen.
Damit die aufgebrachten ökonomischen Investitionen nicht wirkungslos ver-
puffen, nimmt Walter eine sozial definierte, bĂŒrgerliche Rolle an.
156 Die Zitate finden sich ebd., S. 126 â allerdings unter alleinigem Bezug auf To the Lighthouse.
157 Zu den biografischen HintergrĂŒnden der Figurenkonstitution Walters, an denen Musil sich
zum Leidwesen seines eigenen âJugendfreundsâ Gustav Donath ausgiebig bedient hat, vgl. Co-
rino : Musil [2003], S. 291â307 u. 465 f.; zur literarischen Figurengenese vgl. Wilkins : Gestalten
und ihre Namen, S. 48 ; Howald : Ăsthetizismus und Ă€sthetische Ideologiekritik, S. 217â231 ;
Fanta : Die Entstehungsgeschichte des âMann ohne Eigenschaftenâ, S. 150â154.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208