Seite - 708 - in Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
Bild der Seite - 708 -
Text der Seite - 708 -
708 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
Angepasste und Dissidentinnen
Die âgeschlechtsspezifische Teilung der Wiener Gesellschaftâ1102 vor und um
1900 wird auch in Musils romanesker Gesellschaftskonstruktion allenthalben
sichtbar. SĂ€mtliche Frauenfiguren des Mann ohne Eigenschaften sind ganz of-
fensichtlich Opfer jener Ă€uĂerst rigiden MĂ€dchenerziehung, die Stefan Zweig
in seinen Erinnerungen so plastisch portrÀtiert hat : Seiner Darstellung zufolge
âwollte die Gesellschaft von damalsâ junge Frauen nicht selbstsicher, kritisch
und mit praktischen Fertigkeiten begabt, sondern âtöricht und unbelehrt,
wohlerzogen und ahnungslos, neugierig und schamhaft, unsicher und unprak-
tisch, und durch diese lebensfremde Erziehung von vornherein bestimmt, in
der Ehe dann willenlos vom Manne geformt und gefĂŒhrt zu werden. Die Sitte
schien sie zu behĂŒten als das Sinnbild ihres geheimsten Ideals, als das Symbol
der weiblichen Sittsamkeit, der JungfrĂ€ulichkeit, der Unirdischkeit.â1103 Musils
weibliche Figuren, insbesondere Diotima und Agathe, die beide aus dem Bil-
dungsbĂŒrgertum stammen, hat man sich â den damaligen Usancen entspre-
chend â als unter diesen Auspizien erzogen vorzustellen. Die Erwartung einer
untergeordneten Existenz als Frauen ist ihnen demnach gleichsam schon in
die Wiege gelegt worden. Bourdieu zufolge basiert die aus der âmĂ€nnlichen
Herrschaftâ resultierende strukturelle UnterdrĂŒckung der Frauen auf einem
fundamentalen sozialen Gesetz :
Das Inzest-Tabu, in dem LĂ©vi-Strauss den GrĂŒndungsakt der Gesellschaft sieht, da es
den Imperativ des Austausches, im Sinne einer Kommunikation von EbenbĂŒrtigen
unter den MĂ€nnern, impliziert, ist das Korrelat der Instituierung von Gewalt, durch
die die Frauen als Subjekte des Austausches und der Allianz negiert werden, Bezie-
hungen, die zwar durch sie zustande kommen, aber nur, indem sie die Frauen auf
den Status von Objekten oder, besser, von symbolischen Instrumenten der mÀnnlichen
Politik reduzieren : Dazu verurteilt, als Zeichen des Vertrauens zu zirkulieren und so
dauerhafte Beziehungen zwischen den MĂ€nnern herzustellen, werden sie auf den
Status von Produktions- und Reproduktionsmitteln des symbolischen und sozialen
Kapitals reduziert.1104
Den Frauen bleiben unter diesen UmstĂ€nden im GroĂen und Ganzen nur zwei
Möglichkeiten der Reaktion : Entweder sie finden sich auf die eine oder andere
1102 Pollak : Wien 1900, S. 212.
1103 Zweig : Die Welt von Gestern, S. 99.
1104 Bourdieu : Die mÀnnliche Herrschaft, S. 80.
zurĂŒck zum
Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208