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80 Teil I: Grundlegung
Der Berufsdiplomat Tuzzi muss hier selbstverstĂ€ndlich protestieren : âWenn
Sie durchaus das Wort Menschenfresserei gebrauchen wollen, so kann ich nur
sagen, daĂ es das Verdienst der Diplomatie ist, die Welt vom Menschenfressen
abzuhalten ; um das zu können, muĂ man aber an etwas Höheres glauben.â
(MoE 414) Ulrich nimmt diesen Einwand an, integriert ihn indes postwen-
dend in ein nur scheinbar ausgleichendes Fazit :
Ich habe mit Bedauern hervorgehoben, daĂ das Geistige und Gute ohne Mithilfe
des Bösen und Materiellen nicht dauernd existenzfÀhig sei, und Sie antworten mir
ungefÀhr, je mehr Geist vorhanden, desto mehr Vorsicht nötig. Sagen wir also : Man
kann den Menschen als einen gemeinen Kerl behandeln und auf diese Weise nicht
ganz zu allem bringen ; man kann ihn aber auch begeistern und damit nicht ganz zu
allem bringen. Zwischen beiden Methoden schwanken wir darum, beide Methoden
mischen wir ; das ist das Ganze. (MoE 415)
Wie das MischungsverhĂ€ltnis âbeider Methodenâ jeweils konkret im Roman-
text zu beobachten ist, wie es sich im Einzelnen auf verschiedene Figuren und
ganze soziale Konstellationen auswirkt, das wird in der folgenden Untersu-
chung â unter anderem â Gegenstand der analytischen Anstrengung sein.
2.2 âGestaltlosigkeitâ und Romantext als
Gesellschaftskonstruktion
Wie deutlich geworden sein sollte, postuliert Musil mit seinem Gestaltlosig-
keitstheorem die âinnereâ Unbestimmtheit des Menschen und dessen weitge-
hende AbhĂ€ngigkeit von âĂ€uĂerenâ, hauptsĂ€chlich gesellschaftlich bestimmten
UmstÀnden, wobei er die Auswirkungen nicht allein in Handlungen und Ver-
haltensweisen, sondern insbesondere auch in deren intellektueller Verarbei-
tung diagnostiziert. Diese ânegativeâ Anthropologie bildet auch die konzeptio-
nelle Basis seines groĂen Romans, wie er 1926 im spĂ€ter berĂŒhmt gewordenen
Interview mit Oskar Maurus Fontana unter RĂŒckgriff auf die bereits bekannte
Begrifflichkeit ausdrĂŒcklich hervorhebt : âDer Mensch ist nicht komplett und
kann es nicht sein. Gallertartig nimmt er alle Formen an, ohne das GefĂŒhl der
ZufĂ€lligkeit seiner Existenz zu verlieren.â (GW 7, 941)39 Deutlicher noch wird
39 Entsprechendes geht auch aus seinen nachgelassenen SkizzenblĂ€ttern hervor ; so heiĂt es in den
Entwurfsnotizen zum âGeredeâ der Parallelaktion : âDie ruhelose UmwĂ€lzung der Ideen. Die
Gestaltlosigkeit hinter ihnen.â (M I/1/32) Der in den SkizzenblĂ€ttern hĂ€ufig gebrauchte Begriff
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208