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222 Teil I: Grundlegung
wirklich fĂŒr die Unterwerfung unter eine Ordnung eignen, welche aus univer-
sellen und eindeutigen moralischen Gesetzen bestehtâ161. Dies zeige sich etwa
beim Kunstgenuss wie bei psychologisch verwandten Erfahrungen :
Als Menschen eines Moralkreises, mit Sollen, Pflichten und Absichten lesen wir ein
Gedicht und beim Lesen Àndert sich alles das ein wenig in einer Weise, die sich fast
nur gefĂŒhlshaft festhalten lĂ€Ăt und sich rasch verliert. â Etwas Ă€hnliches lĂ€Ăt sich
von den Erlebnissen sagen, die wir in ungewöhnlichen Augenblicken wie denen der
Liebe, eines nicht alltÀglichen Zorns und jeder ungewohnten Beziehung zu Men-
schen und Dingen erleiden. (GW 8, 1335)
Die vordringlich affektive Zurichtung des Erlebnisses wirkt sich zumindest
vorĂŒbergehend auf die Weltwahrnehmung generell aus. Nachdem auf sol-
che Weise festgehalten wurde, worin der Essay nicht besteht, gelangt Musil
schlieĂlich ĂŒber die beliebte Gedankenfigur doppelter Distinktion zu seinem
Gegenstand selbst :
Zwischen diesen beiden Gebieten liegt der Essay. Er hat von der Wissenschaft die
Form und Methode. Von der Kunst die Materie. [âŠ] Er sucht eine Ordnung zu schaf-
fen. Er gibt keine Figuren, sondern eine GedankenverknĂŒpfung, also eine logische,
und geht von Tatsachen aus, wie die Naturwissenschaft, die er in Beziehung setzt.
Nur sind diese Tatsachen nicht allgemein beobachtbar und auch ihre VerknĂŒpfung ist
in vielen FÀllen nur eine singulÀre. Er gibt keine Totallösung, sondern nur eine Reihe
von partikularen. Aber er sagt aus und untersucht. (GW 8, 1335, nach M IV/1/4â5)
Musils Definition des Essays integriert dergestalt die in ihren Implikationen
noch genauer zu diskutierende Opposition zwischen âPartikular-â und âTotal-
lösungâ sowie das klare Votum zugunsten der ersteren. Auf dieser Basis wird
nun auch die oben bereits angedeutete programmatische BerĂŒcksichtigung
sinnlicher bzw. affektiver Aspekte sowie die daraus resultierende NĂ€he zu den
konkreten menschlichen âLebensbedĂŒrfnissenâ ins Werk gesetzt : Zur Voraus-
setzung dafĂŒr erklĂ€rt Musil die objektive âNatur der GegenstĂ€ndeâ bzw. die
phĂ€nomenale Beschaffenheit jener âGebieteâ162, âauf denen nicht die Wahr-
161 Bouveresse : Genauigkeit und Leidenschaft, S. 16.
162 Vgl. folgende nachgereichte BegrĂŒndung, mit der Musil den Essayismus wiederum von der
Wissenschaft abhebt : âDa der Unterschied nicht in der Funktion liegt, so kann er nur in der
Natur des Gebiets begrĂŒndet sein.â (GW 8, 1337) Schon zuvor hatte er zu den beiden âGebie-
tenâ festgestellt : âDas in einem erweiterten Sinn Logische bleibt gleich. Bisher ist allerdings der
Unterschied gerade in einem solchen der Funktion gesucht worden.â (GW 8, 1335 f.)
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208