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236 Teil I: Grundlegung
soziale FahrlÀssigkeit hinauslÀuft oder auf einen Rest von Ungeschicklichkeit, wenn
man aus Verbrechern nicht rechtzeitig Erzengel macht. Und so lieĂe sich sehr vieles
anfĂŒhren, Zerstreutes, einander noch nicht nahe Gekommenes, was zusammenwirkt,
daĂ man der groben AnnĂ€herungen mĂŒde wird, die unter einfacheren Bedingungen fĂŒr
ihre Anwendung entstanden sind, und allmÀhlich die Nötigung erlebt, eine Moral, die
seit zweitausend Jahren immer nur im kleinen dem wechselnden Geschmack angepaĂt
worden ist, in den Grundlagen der Form zu verÀndern und gegen eine andere einzutau-
schen, die sich der Beweglichkeit der Tatsachen genauer anschmiegt. (MoE 252)
Was Musils ErzÀhler hier einfordert, ist nichts Geringeres als eine vollkom-
mene NeubegrĂŒndung sozialer Ethik auf der Basis damals avanciertester wis-
senschaftlicher Erkenntnisse.
Bereits Anfang der zwanziger Jahre hatte sich sein Autor im Arbeitsheft
25 darĂŒber beklagt, dass die von ihm favorisierte Forschungsethik der essay-
istischen bricolage, des tentativen, antisystematischen âProbierensâ, âauf dem
Gebiet des Rechts und der Sitte [âŠ] verpöntâ sei, weil dort paradoxerweise
âstarr und unverĂ€nderlich als heiligâ gelte :
Unsre Moral hat â oder hĂ€tte doch gern â ein oberstes Gut. Oder ein umfassendstes
Sittengesetz. / Oder sie verfĂ€hrt empirisch [âŠ], dann â nimmt sie mehrere deren an.
/ GrĂŒnde : der alte deduzierliche Hochmut. / Vielleicht Angst, daĂ gerade auf diesem
Gebiet, wenn man nicht streng ist, Anarchie entstĂŒnde. / In Analogie zum princi-
pium identitatis das BedĂŒrfnis nach einem Archimedischen Punkt. / Es zeigt das aber
keine groĂe Phantasie im Ausdenken von Ordnungen. (Tb 1, 644)
Im Roman wird Entsprechendes am Fall Moosbrugger exemplifiziert und dis-
kutiert. DemgegenĂŒber berichtet Musil in eigener Sache, es sei schon einer
seiner âfrĂŒhesten â und ich möchte heute glauben instinktiven â Gedanken-
versucheâ gewesen, âzwischen einem Moralisten und einem Ethiker zu unter-
scheidenâ (Tb 1, 645). Was diese demnach zeitlebens verfochtene idealtypi-
sche Unterscheidung zwischen starrer Moral und beweglich-phantasievoller
Ethik im Einzelnen bedeutet, umreiĂt er dann wie folgt :
Der Moralist bringt eine vorgefundene und ĂŒbernommene Existenz sittlicher SĂ€tze
in logische Ordnung. Er fĂŒgt den Werten keinen Wert, sondern ein System hinzu.
GrundsÀtze, Prinzipien ⊠sind relative Lagen im System. (Gewöhnlich rigoroser Ab-
solutist, ist er eigentlich Relativist der Lage). Sein leitender Trieb ist der logische. Er
verwendet ethische SĂ€tze nur soweit sie logifizierbar sind. Alle Philosophen neigen
dazu, denen die Ethik ein AnhÀngsel der theoretischen Philosophie ist. Sie kommen
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208