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239Grundbegriffe
des Romankonzepts
Genau die hier hervorgehobene Ambivalenz menschlichen Denkens und FĂŒh-
lens204 gibt den AnhĂ€ngern der âUtopie des Essayismusâ zu denken :
Man nennt etwas, das weder eine Wahrheit noch eine SubjektivitÀt ist, zuweilen eine
Forderung. Man hat diese Forderung an den Dogmen der Religion und an denen
des Gesetzes befestigt und ihr dadurch den Charakter einer abgeleiteten Wahrheit
gegeben, aber die Romanschriftsteller erzÀhlen uns von den Ausnahmen, angefangen
beim Opfer Abrahams bis zur jĂŒngsten schönen Frau, die ihren Geliebten niederge-
schossen hat, und lösen es wieder in SubjektivitÀt auf. Man kann sich also entweder
an den Pflöcken festhalten oder zwischen ihnen von der breiten Welle hin und her
tragen lassen ; aber mit welchem GefĂŒhl ! ? Das GefĂŒhl des Menschen fĂŒr diesen Satz
ist ein Gemisch von vernageltem Gehorchen (einschlieĂlich der âgesunden Naturâ,
die sich strÀubt, an so etwas auch nur zu denken, aber, durch Alkohol oder Leiden-
schaft nur ein wenig von ihrem Platz verrĂŒckt, es sofort tut) und gedankenlosem
PlÀtschern in einer Woge voll Möglichkeiten. (MoE 254 f.)
Wenn sich das menschliche GefĂŒhl realiter stĂ€ndig zwischen âvernageltem
Gehorchenâ und âgedankenlosem PlĂ€tschern in einer Woge voll Möglich-
keitenâ bewegt, dann erweisen sich die Dogmen der Religion und des Ge-
setzes als reichlich kontrafaktische Illusionen. Sie beruhen ĂŒberdies auf ei-
nem eindimensionalen und lÀngst widerlegten Menschenbild, das gegen alle
Wahrscheinlichkeit und Erfahrung die stete und bewusste Kontrollierbarkeit
menschlichen Verhaltens suggeriert. DemgegenĂŒber prĂ€sentiert sich der
Mensch dem essayistischen Denken als konstitutionell unsicheres und gefÀhr-
detes Wesen, dessen affektiven BedĂŒrfnissen eine deduktiv hergeleitete Moral
mit festen GrundsÀtzen nicht entspricht. Dies hat freilich auch höchst ambiva-
lente Implikationen fĂŒr das eigene SelbstgefĂŒhl :
Ulrich fĂŒhlte, daĂ ein Mann, der etwas mit ganzer Seele tun möchte, auf diese Weise
weder weiĂ, ob er es tun, noch ob er es unterlassen soll. Und ihm ahnte doch, daĂ
man es aus dem ganzen Wesen heraus tun oder lassen könnte. Ein Einfall oder ein
Verbot sagten ihm gar nichts. Die AnknĂŒpfung an ein Gesetz nach oben oder innen
erregte die Kritik seines Verstandes, ja mehr als das, es lag auch eine Entwertung in
diesem BedĂŒrfnis, den seiner selbst gewissen Augenblick durch eine Abstammung
zu nobilitieren. Bei alledem blieb seine Brust stumm, und nur sein Kopf sprach ; aber
204 In diesen Zusammenhang gehören auch die Bemerkungen des ErzÀhlers zur ambivalenten
Faszination, welche Moosbruggers Gewalttat auf die zeitgenössische Gesellschaft ausĂŒbt (vgl.
MoE 69, 121, 652 u. 1984).
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Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208