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252 Teil I: Grundlegung
fenbar vollkommen unabhÀngig von diesen und noch radikaler, akzeptierte
er die existenzielle Kontingenz nicht nur, sondern affirmierte sie sogar und
distinguierte sich auf diese Weise scharf vom âkulturkritischen Mainstream der
Klassischen Moderneâ235. Peter BĂŒrger hat Musils Haltung in eine griffige For-
mel gebracht : âAuf die Unsicherheit, [âŠ] die auch Musils Analyse zufolge die
geistige Situation der Moderne bestimmt (vgl. MoE 1837), antwortet er nicht
wie Georg LukĂĄcs oder Carl Schmitt mit dem Verlangen nach Entscheidung,
sondern mit einer Wirklichkeitskonstruktion, die das Aushalten der Nichtent-
scheidbarkeit letzter Fragen zur Grundlage der Ethik macht.â236
Deutlich wird das etwa in seiner Wendung gegen das damals allgegen-
wĂ€rtige BedĂŒrfnis nach (Wieder-)Herstellung einer angeblich verloren ge-
gangenen SinntotalitÀt : Mit Blick auf das von ihm favorisierte Genre des
Essays hebt Musil 1918 âdas groĂe MaĂ geistiger Bewegung und den Wert
der Summe partieller Lösungenâ hervor, âdie in diesen Schriften sindâ (GW
8, 1025). Die vom Essayismus propagierten âpartiellen Lösungenâ sind ihm
zufolge der Struktur der modernen Welt entschieden angemessener als die
forcierte PrĂ€tention einer âTotallösungâ.237 Entsprechendes belegen auch die
Notizen zum geplanten Romankapitel âKrisis und Entscheidungâ aus den frĂŒ-
hen dreiĂiger Jahren, worin es heiĂt : âGott gibt Teillösungen, das sind die
schöpferischen Menschen, sie widersprechen einander, die Welt bildet dar-
aus immer wieder eine relative Totale, die keiner Lösung entspricht.â (MoE
1481) Die Frage nach der Möglichkeit und den Aussichten von âTotallösun-
genâ wird bereits im kanonischen Romantext aufgeworfen, nĂ€mlich in Ulrichs
radikal antileibnizianischem Gedankenspiel ĂŒber die Unfertigkeit der Schöp-
fung : âGott meint die Welt keineswegs wörtlich ; sie ist ein Bild, eine Analogie,
eine Redewendung, deren er sich aus irgendwelchen GrĂŒnden bedienen muĂ,
und natĂŒrlich immer unzureichend ; wir dĂŒrfen ihn nicht beim Wort nehmen,
wir selbst mĂŒssen die Lösung herausbekommen, die er uns aufgibt.â (MoE
Abhandlungâ sowie auf die zugrunde liegende âessayistisch-experimentelle Denkhaltungâ des
Soziologen beruft (Zitate in Mannheim : Ideologie und Utopie, S. 47).
235 So Makropoulos : ModernitĂ€t und Kontingenz, S. 125. Zum âchaotische[n] Zustandâ der mo-
dernen Welt vgl. eine kritische Bemerkung Musils aus dem Essayfragment Der deutsche Mensch
als Symptom (1923) ĂŒber die Insuffizienz regressiver Versuche der KontingenzbewĂ€ltigung :
âGanz allgemein wird die Heilung regressiv gesucht. (Nation, Tugend, Religion, Antiwissen-
schaftlichkeit.) Ganz selten wird ausgesprochen, daĂ hier ein neues Problem gestellt ist, das
seine Lösung noch nicht gefunden hat.â (GW 8, 1357)
236 BĂŒrger : Literarische Form als Denkform, S. 437.
237 Vgl. die bereits zitierte Passage aus dem selbstreferenziellen Fragment Ăber den Essay, das um
die erste HĂ€lfte des Jahres 1914 entstanden ist : âEr gibt keine Totallösung, sondern nur eine
Reihe von partikularen.â (GW 8, 1335)
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Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208