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Teil II: Romantext als
KrÀftefeld272
Mit despektierlichem Unterton spricht Musil von âdieser erfolgverbĂŒrgenden
Gesellschaft mit haftender BeschrĂ€nktheitâ (GW 8, 1157) und grenzt sich so
von den gÀngigen literarischen GemeinplÀtzen ab33, die im Roman von Figu-
ren wie Diotima zum Besten gegeben werden â etwa wenn sie im Blick auf die
kakanische Metropole voll falschem Pathos von âdieser einzigen GroĂstadtâ
schwĂ€rmt, âdie âbis zur Unschuld kulturvollââ (MoE 97) und auĂerdem durch
âheitere Seelenhaftigkeitâ (MoE 109) ausgezeichnet sei.
Um aber die heuristische Funktion der singulĂ€ren stĂ€dtischen âEigen-
schaftslosigkeitâ Wiens als Exempel des modernen GroĂstadtlebens ĂŒberhaupt
zu verdeutlichen, bedarf es im Romaneingang wiederum einer ironischen Re-
lativierung :
Es wÀre wichtig, zu wissen, warum man sich bei einer roten Nase ganz ungenau
damit begnĂŒgt, sie sei rot, und nie danach fragt, welches besondere Rot sie habe,
obgleich sich das durch die WellenlĂ€nge auf Mikromillimeter genau ausdrĂŒcken lieĂe ;
wogegen man bei etwas so viel Verwickelterem, wie es eine Stadt ist, in der man sich
aufhÀlt, immer durchaus genau wissen möchte, welche besondere Stadt das sei. Es
lenkt von Wichtigerem ab. / Es soll also auf den Namen der Stadt kein besonderer
Wert gelegt werden. (MoE 9 f.)
Wie eingangs (bereits zum wiederholten Mal) zitiert wurde, drĂŒcken literari-
sche Texte die Farbe von Nasen und anderen GegenstĂ€nden gemeinhin ânicht
in den Mikromillimetern der WellenlÀnge aus[ ], obgleich das viel genauer
istâ (GW 8, 1302) ; hier herrscht konventionellerweise ein anderes, weniger
âgenauesâ, aber anschaulicheres Darstellungsprinzip vor, nĂ€mlich das der meist
âbildlichâ bzw. âsinnlichâ verfahrenden Individualisierung. Wie indes ebenfalls
deutlich geworden sein dĂŒrfte, stellt Musil âdas Individualistische der Kunst-
ĂŒbungâ stets in ein SpannungsverhĂ€ltnis zum âKollektivismusâ und zur âRati-
onalisierungâ in der Moderne (GW 8, 1409). Es ist also nur konsequent, wenn
im Romaneingang wie im gesamten Text â anders etwa als in den Romanen
33 Vgl. etwa den elegischen RĂŒckblick in Zweig : Die Welt von Gestern, S. 27 : â[E]s war das ei-
gentliche Genie dieser Stadt der Musik, alle [âŠ] Kontraste harmonisch aufzulösen in ein Neues
und Eigenartiges, in das Ăsterreichische, in das Wienerische. Aufnahmewillig und mit einem
besonderen Sinn fĂŒr EmpfĂ€nglichkeit begabt, zog diese Stadt die disparatesten KrĂ€fte an sich,
entspannte, lockerte, begĂŒtigte sie ; es war lind, hier zu leben, in dieser AtmosphĂ€re geistiger
Konzilianz, und unbewuĂt wurde jeder [!] BĂŒrger dieser Stadt zum Ăbernationalen, zum Kos-
mopolitischen, zum WeltbĂŒrger erzogen.â Die sozialen und nationalen Konflikte Wiens um 1900
bleiben hier ausgeklammert.
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Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208