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âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 275
Verweis auf die âEigenschaftslosigkeitâ Wiens nur angedeutet. Genaueres zum
Thema Kakanien soll im folgenden Kapitel diskutiert werden.
Nach der Relativierung von Zeit und Ort der Handlung âbleibt fĂŒr das erste
Kapitel eigentlich nur noch, die Handlung, das epische Ereignis zu relativie-
ren. Ein anonymer Herr [âŠ] ĂŒbernimmt diese Aufgabe in Begleitung einer
ebenso anonymen Dame, indem er einem Verkehrsunfall durch statistische
Hintergrundinformationen seinen Ereignischarakter nimmt.â40 Allerdings ist
hier von neuem auch eine gegenlÀufige Dynamik am Werk41, die etwa da-
rin ihren Ausdruck findet, dass der ErzÀhler explizit die herkömmliche Frage
nach der sozialen IdentitÀt dieser ersten erwÀhnten Figuren des Mann ohne
Eigenschaften aufwirft : das âRĂ€tsel, wer sie seienâ (MoE 10). Dass die sozia-
len Indikatoren erzÀhllogisch keineswegs arbitrÀr sind42, zeigt etwa die Infor-
mation darĂŒber, dass die âbeiden Menschenâ, die im nur beilĂ€ufig erwĂ€hnten
Handlungsort Wien âeine breite, belebte StraĂe hinaufgingenâ, ânatĂŒrlich gar
nicht diesen Eindruckâ von der Bedeutungslosigkeit des âNamen[s] der Stadtâ
haben, in der sie leben â ganz im Gegenteil :
Sie gehörten ersichtlich einer bevorzugten Gesellschaftsschicht an, waren vornehm
in Kleidung, Haltung und in der Art, wie sie miteinander sprachen, trugen die An-
fangsbuchstaben ihrer Namen bedeutsam auf ihre WĂ€sche gestickt, und ebenso, das
heiĂt nicht nach auĂen gekehrt, wohl aber in der feinen UnterwĂ€sche ihres BewuĂt-
seins, wuĂten sie, wer sie seien und daĂ sie sich in einer Haupt- und Residenzstadt
auf ihrem Platze befanden. (MoE 10)
Wenn Musils ErzĂ€hler von den flĂŒchtig eingefĂŒhrten beiden ersten Figuren
des Mann ohne Eigenschaften â ihrerseits âbeliebige Vertreterâ43 einer privile-
gierten Gesellschaftsschicht â berichtet, dass sie âwuĂtenâ, âwer sie seienâ,
und k. Monarchie des 19. Jahrhunderts zurĂŒckschreibtâ, leitet sie die angebliche TraditionalitĂ€t
von Musils ErzÀhlen sowie seines Romanhelden ab (S. 157 f.).
40 Kremer : Die endlose Schrift, S. 440.
41 Nur im VorĂŒbergehen sei erwĂ€hnt, dass der zweite Absatz des Einleitungskapitels wiederum
von mindestens zwei konkurrierenden Stillagen geprÀgt ist : von einem gleichsam futuristischen
Realismus und einem eher impressionistischen Feuilletonismus, der sich zudem aphoristischer
Pointierungen bedient ; vgl. Arntzen : Musil-Kommentar, S. 139.
42 Martens : Beobachtungen der Moderne, S. 266, sieht in der im Folgenden diskutierten Proble-
matik des sense of oneâs place hingegen nur eine erzĂ€hlerische âDekonstruktion der substantiell
verstandenen IdentitĂ€tâ am Werk, die âdas Determinierende des Klassenbewusstseins ad ab-
surdumâ fĂŒhre. Damit argumentiert er gegen eine sozialwissenschaftliche NaivitĂ€t, die in solch
schlichter Form allein noch in antisozialwissenschaftlichen Polemiken zu finden sein dĂŒrfte.
Welcher Soziologe sprĂ€che heute noch ernsthaft von einer âsubstantielle[n] IdentitĂ€tâ ?
43 Kremer : Die endlose Schrift, S. 440.
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Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208