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âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 281
leise angespielt. Man mag sogar die beschriebene Menschenversammlung
anlÀsslich des Verkehrsunfalls als Vorgriff auf die MassenauflÀufe bei Kriegs-
ausbruch (vgl. Tb 1, 298) interpretieren. Wie dem auch sei â dass das âSom-
mererlebnis im Jahre 1914â (GW 8, 1060) eine Urszene von Musils Schrift-
stellerexistenz nach seiner RĂŒckkehr von der Front ins zivile Leben bedeutet,
wurde jedenfalls hinlÀnglich erörtert.53 Die ErzÀhlstrategie des Einleitungska-
pitels entspricht insgesamt dem aphoristischen Diktum der Rede Der Dichter
in dieser Zeit (1934), das jede Form von literarischem âEpistemozentrismusâ54
entschieden von sich weist : âWie immer man [âŠ] philosophieren mag, die
Geschehnisse sind nicht theoretisch entstanden, sondern wirklich und viel-
deutig, wie es alles Wirkliche ist.â (GW 8, 1249) Dieser Vorgabe hat auch ein
Roman zu genĂŒgen, der erklĂ€rtermaĂen âBeitrĂ€ge zur geistigen BewĂ€ltigung
der Welt gebenâ will (GW 7, 942) und damit wohl nicht nur eine referenzlose
Textwelt meint.55 Nicht von ungefÀhr wurde mittlerweile von der Geschichts-
wissenschaft bestĂ€tigt, dass Musil âeinen wunderbaren Einstieg in die Sozial-
geschichte der spĂ€ten Donaumonarchieâ biete und es etwa âkeine prĂ€zisere
Schilderung des typischen Entwicklungsmusters von verlangsamtem sozialen
Wandelâ oder der historisch charakteristischen âUngleichzeitigkeit des Gleich-
zeitigenâ gebe, als sie Robert Musil in der im folgenden Kapitel diskutierten
Analyse Kakaniens âentworfen hatâ.56 Auf solche Einsichten und die daraus
resultierende auĂerliterarische Relevanz ihres Gegenstands sollte auch eine
historisch interessierte Literaturwissenschaft nicht verzichten, wenngleich sie
im Unterschied zur Historiografie natĂŒrlich insbesondere auf die darstelleri-
sche Valenz und Ambivalenz des fiktionalen Romangeschehens zu achten hat.
53 Vgl. dazu Kap. I.2.2.
54 Bourdieu : Meditationen, S. 65.
55 Vgl. dagegen Eisele : Ulrichs Mutter ist doch ein TintenfaĂ, S. 165 : âStatt [âŠ] einen literarischen
Lebensraum aufzubauen, in dem sich das Personal wie die Leser des Romans zu Hause fĂŒhlen
könn(t)en, zerstört â oder unterminiert zumindest â das Einleitungskapitel geradezu systema-
tisch diese Erwartung und Konvention.â Die implizite Voraussetzung dieser Argumentation
besteht in der ein wenig naiv anmutenden Annahme, dass ein âliterarischer Lebensraumâ nur
dann existiere, wenn sich das darin angesiedelte Personal mit ihm umstandslos identifiziere.
Da das Letztere zumindest bei den beiden Hauptfiguren des Mann ohne Eigenschaften (Ulrich
und Agathe) offensichtlich nicht der Fall ist, wird gleich dessen gesamter Chronotopos auf die
Dimension einer referenzlosen Textwelt reduziert â und solcherart das Kind mit dem Bade aus-
geschĂŒttet.
56 BruckmĂŒller : Sozialgeschichte Ăsterreichs, S. 282 f.
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208