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Teil II: Romantext als
KrÀftefeld296
tigen Zusammenhang entscheidend â auch dem gegenteiligen Glauben an
die prinzipielle LegitimitÀt der herrschenden sozialen Wirklichkeit generell ;
insofern wirkt es auf die Phantasie befreiend. Musils romanesker Chronoto-
pos vermag den schleichenden Wirklichkeitsverlust moderner Gesellschaften
paradigmatisch zu demonstrieren : âBesonders Kakanien war fĂŒr den Umgang
mit Wunsch- und Unwunschbildern ein ungemein geeignetes Land ; das Le-
ben hatte dort ohnehin etwas Unwirklichesâ (MoE 514).
Die eklatante Glaubens- und Sinnkrise Kakaniens setzt produktive Phanta-
sie freilich nicht nur dort frei, wo es um die zentralen Anliegen einer emanzi-
patorischen Moderne geht, sondern auch dort, wo diese Anliegen entschieden
in Frage gestellt erscheinen ; Musils Beispiel dafĂŒr ist âdie deutsche âNationa-
litĂ€tââ und die verquere Entwicklung ihrer Selbstwahrnehmung angesichts der
beschriebenen VerhÀltnisse :
Diese [Nation, N. C. W] hatte in Kakanien eine besondere Rolle inne, denn sie hatte
in ihrer Masse eigentlich immer nur das eine gewollt, daĂ der Staat stark sei. Sie
hatte am lÀngsten den Glauben festgehalten, daà die kakanische Geschichte doch
irgendeinen Sinn haben mĂŒsse, und erst allmĂ€hlich, als sie begriff, daĂ man in Kaka-
nien als HochverrÀter anfangen und als Minister enden, aber auch umgekehrt seine
Ministerlaufbahn wieder als HochverrÀter fortsetzen könne, begann auch sie sich als
unterdrĂŒckte Nation zu fĂŒhlen. (MoE 515)
Die ironische Formel vom âHochverrĂ€terâ, der âals Ministerâ endet, ist even-
tuell eine Anspielung auf die wechselvolle politische Karriere des ungarischen
Grafen Gyula AndrĂĄssy d. Ă., der im Gefolge des österreichisch-ungarischen
Ausgleichs 1867, knapp 20 Jahre nach seiner Beteiligung am Aufstand der Ma-
gyaren gegen die habsburgische Herrschaft im Jahr 1848 (wofĂŒr er 1850 zu
Tode verurteilt worden und daraufhin nach Paris und London geflohen war),
zum ungarischen MinisterprÀsidenten gewÀhlt und 1871 sogar zum gesamt-
staatlichen Minister des ĂuĂeren und des kaiserlichen Hauses ernannt wur-
de.81 Dagegen kann die gegenlÀufige Formel vom Minister, der seine Laufbahn
âals HochverrĂ€terâ fortsetzt, sowohl auf Graf Karl Sigmund von Hohenwart
als auch auf Graf Kasimir Felix von Badeni bezogen werden ; beiden hat man
von âdeutscherâ (sowie von ungarischer) Seite angesichts ihrer slawenfreund-
lichen Politik zumindest im ĂŒbertragenen Sinn âHochverratâ vorgeworfen.82
81 Vgl. Schmidt : Graf Julius AndrĂĄssy. Vom RevolutionĂ€r zum AuĂenminister. FĂŒr diesen und die
in der folgenden Anmerkung aufgenommenen Hinweise danke ich Werner Michler.
82 Graf Karl Sigmund von Hohenwart vertrat als kurzzeitiger österreichischer MinisterprÀsident
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208