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âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 297
Die Folgerung, die Musils essayistischer ErzÀhler aus diesen paradox anmuten-
den historischen Verwicklungen zieht83, verweist wiederum auf die besondere
Avanciertheit seines vorderhand rĂŒckstĂ€ndigen Chronotopos, die aus dessen
chaotischer Beschaffenheit resultiert :
Vielleicht hat es Ăhnliches nicht nur in Kakanien gegeben, aber das diesem Staat
EigentĂŒmliche war, daĂ es dort keinerlei Revolutionen und UmstĂŒrze dazu bedurfte,
weil alles mit der Zeit anfing, in einer natĂŒrlichen, ruhig pendelnden Entwicklung vor
sich zu gehen, einfach kraft der Unsicherheit der Begriffe, und zum SchluĂ gab es in
Kakanien nur noch unterdrĂŒckte Nationen und einen obersten Kreis von Personen,
die die eigentlichen UnterdrĂŒcker waren und sich maĂlos von den UnterdrĂŒckten
gefoppt und geplagt fĂŒhlten. (MoE 515)
In Kakanien spiegelt sich die Kompliziertheit der modernen Welt in der âUn-
sicherheit der Begriffeâ, die vermeintlich klaren Hierarchien der Macht erwei-
sen sich hier als komplexes, unentwirrbares und unsteuerbares bĂŒrokratisches
Beziehungsgeflecht, das alle in welcher Hinsicht auch immer herausragenden
Aspirationen effektiv nivelliert :
eine dezidiert föderalistische Politik : So betrieb er von 1870 bis zu seiner Absetzung 1871 nach
dem Muster des österreichisch-ungarischen Ausgleichs ein eigenes Ausgleichswerk fĂŒr Böh-
men. Daraufhin verabschiedete die tschechische Mehrheit im Böhmischen Landtag die so-
genannten âFundamentalartikelâ, in welchen die WortfĂŒhrer nicht nur der deutschsprachigen
Bevölkerung Cisleithaniens einen Angriff auf die militÀrische und wirtschaftliche Einheit der
Monarchie â und damit indirekt auch auf die âdeutscheâ Vorherrschaft â sahen. Die dringend
nötige Reform scheiterte an deren massivem Widerstand. Wahrscheinlicher noch ist aber eine
Anspielung auf den polnischen Grafen Kasimir Felix von Badeni, der von 1895 bis 1897 öster-
reichischer MinisterprÀsident war und eine schon von Hohenwart angestrebte, aus Sicht des
Gesamtstaats jedoch explosive Wahlrechtsreform sowie vor allem die extrem umkĂ€mpften, âega-
litĂ€renâ âBadenischen Sprachenverordnungenâ fĂŒr Böhmen und MĂ€hren erlieĂ, die den immer
radikaler werdenden Deutschnationalen als Hochverrat galten, eine Staatskrise auslösten und
zu einer Serie höchst instabiler Regierungen fĂŒhrten. Vgl. dazu Fuchs : Geistige Strömungen in
Ăsterreich, S. 183 ; Rumpler : Eine Chance fĂŒr Mitteleuropa, S. 434â438 u. 510â514.
83 Zu den ideologiegeschichtlichen HintergrĂŒnden vgl. Fuchs : Geistige Strömungen in Ăsterreich,
S. 12 : âWas die [bis in die siebziger Jahre hegemonialen, N. C. W.] Liberalen meinten, wenn sie
sich gute Ăsterreicher nannten, war, daĂ sie die Erhaltung und Festigung der Habsburgermon-
archie wĂŒnschten (hiedurch unterschieden sie sich von den [seit den achtziger Jahren erstarken-
den, N. C. W.] âAlldeutschenâ, die auf die Zerschlagung der Monarchie hinarbeiteten) und daĂ
sie bereit waren, um des Zusammenlebens mit den ĂŒbrigen Nationen willen nationale Toleranz
zu ĂŒben [âŠ]. Nun darf man freilich das gute Ăsterreichertum nicht wörtlich nehmen. Es wurde
sehr wesentlich eingeschrĂ€nkt, ja sogar groĂenteils aufgehoben durch das bewuĂte Deutschtum
der Liberalen. Dem bewuĂten Deutschtum entsprang die Konsequenz, daĂ die Ăbermacht der
Deutschösterreicher im Rahmen der Monarchie fortdauern sollte.â
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208