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329âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
sonen konstruiert werdenâ.5 Entscheidend ist dabei unter anderem âdas Bestre-
ben, die Prozesshaftigkeit der rezipientenseitigen Konstruktion literarischer
Figuren zu erfassenâ6. Die bisher vorgelegten EntwĂŒrfe, âdie Konstruktion von
Figuren im Rezeptionsprozessâ mittels âmentaler Modelleâ wie âKategorisierung,
Individualisierung, Entkategorisierung und Personalisierungâ7 â also allein auf
psychologischer Ebene â zu konzeptualisieren, bleiben freilich hĂ€ufig relativ
allgemein und abstrakt.8
An dieser Stelle können die durchaus anregenden Befunde der Litera-
turpsychologie durch kultursoziologische Konzepte sinnvoll ergÀnzt wer-
den. Denn : âWie [âŠ] sollte man, ohne die Grenzen der Soziologie zu ĂŒber-
schreiten, auf die alte empiristische Frage nach der Existenz eines nicht auf
die Rhapsodie der Einzelempfindungen reduzierbaren Ichs antworten ?â9
Unter anderem zu diesem Zweck hat Bourdieu sein Konzept des âHabitusâ
entwickelt, mit dessen Hilfe sich âdas aktive, nicht auf die passiven Wahr-
nehmungen reduzierbare Prinzip der Vereinheitlichung der Praktiken und
Vorstellungen findenâ10 lĂ€sst : âDer Habitus bewirkt, daĂ die Gesamtheit der
Praxisformen eines Akteurs (oder einer Gruppe von aus Àhnlichen Soziallagen
hervorgegangenen Akteuren) als Produkt der Anwendung identischer (oder
5 Gymnich : Konzepte literarischer Figuren und Figurencharakterisierung, S. 129. Hervorgehoben
werden in diesem Zusammenhang insbesondere Grabes : Ăber die Erforschung literarischer
Figuren, und Koch : Literarische Menschendarstellung.
6 Gymnich : Konzepte literarischer Figuren und Figurencharakterisierung, S. 130.
7 Ebd., S. 130 f.
8 Psychologisch genauer, aber nicht minder abstrakt (sowie vergleichsweise textfern) wirkt der
bereits in Kap. I.1.1 erwÀhnte evolutionspsychologische Entwurf von Mellmann : Literatur als
emotionale Attrappe. Ein Grundlagenwerk der figurenbezogenen Narratologie, das ebenfalls
in erster Linie darauf abhebt, âdie kognitionswissenschaftlichen Ergebnisse zu ĂŒbernehmen und
auf die Analyse von Texten zu applizierenâ, besteht jetzt in der Habilitationsschrift von Jannidis :
Figur und Person, Zit. S. 9. FĂŒr die Zwecke der literaturwissenschaftlichen Sozioanalyse ein-
schlĂ€gig ist insbesondere Jannidisâ Konzept eines âBasistypusâ (ebd., S. 126â128 u. 192â195), der
als âMinimaltypus der Figur [âŠ] neben der HandlungsfĂ€higkeit auch die prinzipielle Differenz
von Innen und AuĂenâ aufweist sowie âdie Differenz zwischen vorĂŒbergehenden InnenzustĂ€n-
den und mehr oder weniger stabilen Merkmalen des Innerenâ (S. 126 f.). Als âbasale Struktur
der Informationen in der mentalen ReprĂ€sentation einer Figurâ erlaube er auf der Basis einer
allgemein geteilten âfolk psychologyâ auĂerliterarische âErklĂ€rungen und Beschreibungen von
Verhaltenâ literarischer Figuren (S. 192). Aus soziologischer Perspektive entspricht die etwas
obskur bleibende âfolk psychologyâ, aufgrund derer die textgenerierte âInformationsstruktur der
Figurenâ (S. 193) decodiert werden kann, etwa der von Bourdieu : Ist interessenfreies Handeln
möglich ?, S. 141, als strukturelle Invariante diagnostizierten âontologischen Ăbereinstimmung
zwischen den mentalen Strukturen und den objektiven Strukturen des sozialen Raumsâ.
9 Bourdieu : Die biographische Illusion, S. 77 f.
10 Ebd., S. 78.
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208