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362 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
und er machte seinem Sohne VorwĂŒrfe, die noch bitterer waren als die vielen Vor-
wĂŒrfe, die er ihm im Lauf der Zeiten schon gemacht hatte [âŠ]. Das GrundgefĂŒhl sei-
nes Lebens war beleidigt. Wie bei vielen MĂ€nnern, die etwas Bedeutendes erreichen,
bestand es, fern von Eigennutz, aus einer tiefen Liebe fĂŒr das sozusagen allgemein
und ĂŒberpersönlich NĂŒtzliche, mit anderen Worten aus einer ehrlichen Verehrung fĂŒr
das, worauf man seinen Vorteil baut, nicht weil man ihn baut, sondern in Harmonie
und gleichzeitig damit und aus allgemeinen GrĂŒnden. (MoE 15)
Was hier im Blick auf die vÀterliche Lebenseinstellung nicht nur ironisch als
perfekte âHarmonieâ zu den Ă€uĂeren Gegebenheiten beschrieben wird, ent-
spricht auf das Genaueste der von Bourdieu diagnostizierten âontologischen
Ăbereinstimmung zwischen den mentalen Strukturen und den objektiven
Strukturen des sozialen Raumsâ.120 Musils ErzĂ€hler handelt in vergleichba-
rem Zusammenhang ausdrĂŒcklich vom âGefĂŒhl der Positionâ, das âzu den un-
bemerkten, aber grundwichtigen ZustÀnden des Daseins [gehört] so wie das
Nichtbemerken der Erddrehung[121] oder des persönlichen Anteils, den wir zu
unseren Wahrnehmungen beisteuernâ (MoE 227). Diese vorbewusste âSelbst-
gefĂŒhlslage der Etageâ (MoE 330), in der man sich befindet, ist die habituelle
Voraussetzung eines ungestörten WeltverhÀltnisses :
Das ist von groĂer Wichtigkeit ; schon ein edler Hund sucht seinen Platz unter dem
EĂtisch, unbeirrt von FuĂstöĂen, nicht etwa aus hĂŒndischer Niedrigkeit, sondern aus
AnhÀnglichkeit und Treue, und gar die kalt berechnenden Menschen haben im Le-
ben nicht halb soviel Erfolg wie die richtig gemischten GemĂŒter, die fĂŒr Menschen
und VerhÀltnisse, die ihnen Vorteil bringen, wirklich tief zu empfinden vermögen.
(MoE 15)
WÀhrend bei Ulrichs Vater die solcherart umschriebene prÀstabilierte Harmo-
nie zwischen individuellem Habitus und sozialem Raum vorherrscht, gestaltet
sich deren VerhÀltnis beim Sohn ungleich komplizierter. Wie schon erwÀhnt,
bildet sein Erbe die soziale Voraussetzung einer geradezu kontrÀren Habi-
tusentwicklung. Zu denken ist hier nicht allein an die Freiheit vom Erwerbs-
120 Bourdieu : Ist interessenfreies Handeln möglich ?, S. 141.
121 Wenngleich das âNichtbemerken der Erddrehungâ eine Voraussetzung âdes Daseinsâ ist, wie
der ErzĂ€hler mit Blick auf Diotima ausfĂŒhrt, gibt es in ihrem Leben doch Momente, in denen
âdie Drehung des Globus unter ihren FĂŒĂenâ ihr gleichsam âplötzlich zu BewuĂtseinâ kommt
(MoE 331) ; im Zustand besonderer affektiver IrritabilitĂ€t â etwa durch ihre Liebe zu Arnheim
â werden ihr auch sonst unbewusste Lebensbedingungen gesellschaftlicher Art augenblickshaft
bewusst.
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Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208