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385âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
kann. Auch Walter, obgleich er in besseren Jahren ĂŒber solche Lehren zu lachen
vermocht hatte, kam, als er es selbst mit ihnen zu versuchen begann, bald auf ihre
groĂen Vorteile. War bis dahin er arbeitsunfĂ€hig gewesen und hatte sich schlecht ge-
fĂŒhlt, so war jetzt die Zeit unfĂ€hig und er gesund. Sein Leben, das zu nichts gefĂŒhrt
hatte, fand mit einemmal eine ungeheure ErklÀrung, eine Rechtfertigung in sÀkularen
AusmaĂen, die seiner wĂŒrdig war, ja es nahm geradezu die Art eines groĂen Opfers
an, wenn er den Stift oder die Feder in die Hand nahm und wieder weglegte. (MoE
61 f.)
Walters sozialer und intellektueller Niedergang spiegelt sich in seiner Adap-
tation geistig höchst schwammiger Verfallsszenarien, die ihn selbst entlasten
und auf bequeme Weise seiner Zeit und Umgebung die Verantwortung fĂŒr
sein kĂŒnstlerisches Scheitern aufbĂŒrden. Er steht insofern synekdochisch fĂŒr
eine allgemeine Zeittendenz164, deren wohlfeiler Antirationalismus sich in so
prĂ€gnanten wie schlichten Formeln niederschlĂ€gt : âHeute ist alles Zerfall ! Ein
bodenloser Abgrund von Intelligenz !â (MoE 63) Oder : âDas Menschenhirn
hat [âŠ] glĂŒcklich die Dinge geteilt ; aber die Dinge haben das Menschenherz
geteilt !â (MoE 66) Oder in einer verzweifelt anmutenden Wendung eines spĂ€-
teren GesprÀchs mit Ulrich :
Du hast recht, wenn du sagst, daĂ heute nichts mehr ernst, vernĂŒnftig oder auch nur
durchschaubar ist ; aber warum willst du nicht verstehen, daĂ gerade die steigende
VernĂŒnftigkeit, die das Ganze durchseucht, schuld daran ist. In alle Gehirne hat sich
das Verlangen gelegt, immer vernĂŒnftiger zu werden, mehr denn je das Leben zu
rationalisieren und zu spezialisieren, und zugleich das Unvermögen, sich denken zu
können, was aus uns werden soll, wenn wir alles erkennen, zerteilen, typisieren, in
Maschinen verwandeln und normen. Es kann so nicht weitergehn. (MoE 218 f.)
In Walters Alarmismus angesichts der zunehmenden Rationalisierung, Spezi-
alisierung, Zergliederung, Typisierung und Normierung der modernen Welt
und vor allem angesichts des in ihr fortschreitenden âSinnverlustsâ manifes-
tiert sich eine konservative Abart jener Bedenken, die auch Ulrich und der
164 Vgl. Howald : Ăsthetizismus und Ă€sthetische Ideologiekritik, S. 235 f.: âWalters Diskurs treibt
die Welt antagonistisch zu Paarenâ â in Analogie etwa zu den Ă€sthetischen und ideologischen
Oppositionsbildungen des frĂŒhen Thomas Mann (wie âKĂŒnstlerâ vs. âBĂŒrgerâ, âKrankheitâ vs.
âGesundheitâ etc.), die fĂŒr dessen Denken insgesamt konstitutiv sind, oder zu jenen der meta-
physischen Kulturkritik Walther Rathenaus bzw. Oswald Spenglers, die Musil in seinen ein-
schlÀgigen Rezensionen als schematisch und simplifizierend entlarvt hat (vgl. GW 8, 1017 u.
1052 f.).
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208