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386 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
ErzÀhler an zahlreichen Stellen des Romans mit freilich anderer Bewertung
artikulieren.
Die ironische Apostrophierung Walters als âMann mit Eigenschaftenâ und
damit als Antipode Ulrichs verweist freilich noch auf einen weiteren Aspekt ;
auch seine ostentativ zur Schau gestellte BĂŒrgerlichkeit hat kompensatorische
ZĂŒge : Mit einunddreiĂig Jahren â also nach den MaĂstĂ€ben seiner Zeit nicht
mehr jung â hat er die neun Jahre jĂŒngere Clarisse geheiratet, eine ihm an
Lebenserfahrung scheinbar nicht gewachsene Frau, wohingegen Ulrich in
gleichsam programmatischer Weise ledig bleibt. Die Ehe als bĂŒrgerliche Insti-
tution scheint diesem nicht verlockend zu sein â im Gegensatz zu seinem Ju-
gendfreund Walter, den die mit dem Ehestand verbundene ErfĂŒllung bĂŒrgerli-
cher Rollenerwartung mit zunehmendem Alter sozial konzilianter erscheinen
lĂ€sst. Und wĂ€hrend Ulrich einer Kompensation fĂŒr seine berufliche Erfolglo-
sigkeit offenbar nicht bedarf, erscheint Walters immer stÀrkerer Kinderwunsch
genau als diese : â[E]r schĂ€mte sich zu dieser Zeit, weil er kein Kind besaĂ, er
hĂ€tte fĂŒnf Kinder gewollt, wenn das Clarisse und sein Einkommen gestattet
haben wĂŒrden, denn es drĂ€ngte ihn, die Mitte eines warmen Lebenskreises
zu seinâ (MoE 608 ; vgl. MoE 147). Walters regressiv-idyllische Wunschvor-
stellungen, die sich nicht zuletzt auf seinen unbefriedigten Sexualtrieb zurĂŒck-
fĂŒhren lassen165, sind allerdings aufgrund der sexuellen Verweigerungshaltung
Clarisses infolge seines beruflichen und charakterlichen Versagens und ihrer
damit einhergehenden wachsenden Zuneigung fĂŒr Ulrich (und spĂ€ter fĂŒr
Meingast) ein fĂŒr allemal dazu verdammt, enttĂ€uscht zu werden. VorĂŒberge-
henden Trost findet er allein in der Musik, die in dieser Konstellation als dro-
genÀhnliche Ersatzbefriedigung dient :
Walters ZĂ€rtlichkeit sank zusammen wie ein vom Feuer zur Unzeit weggerissener
Auflauf. Er seufzte tief auf. Dann setzte er sich zögernd wieder ans Klavier und schlug
einige Tasten an. Ob er es wollte oder nicht, es wurden Phantasien ĂŒber Motive aus
Wagneropern daraus, und in dem GeplÀtscher dieser zuchtlos quellenden Substanz,
die er sich einst in den Zeiten des Hochmuts versagt hatte, schilften und gurgelten
seine Finger durch die Tonflut. Mochte man es weithin hören ! Sein RĂŒckenmark
wurde von der Narkose dieser Musik gelÀhmt und sein Schicksal erleichtert. (MoE
67)
Wie die Forschung gezeigt hat, wird Wagners Musik hier wie auch an anderer
Stelle (vgl. MoE 142 f.) âmit dem Vokabular des spĂ€ten Nietzscheâ beschrie-
165 Vgl. Howald : Ăsthetizismus und Ă€sthetische Ideologiekritik, S. 236 f.
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208