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389âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
Wenn Walter sich morgens erhob und ins BĂŒro eilen muĂte, wenn er tagsĂŒber mit
Menschen sprach und wenn er nachmittags zwischen ihnen nach Hause fuhr, fĂŒhlte
er, daĂ er ein bedeutender Mensch sei und zu Besonderem berufen. Er glaubte dann
alles anders zu sehen ; ihn konnte das ergreifen, woran andere achtlos vorbeigingen,
und wo andere achtlos nach einem Ding griffen, dort war fĂŒr ihn schon die Bewe-
gung des eigenen Arms voll geistiger Abenteuer oder in sich selbst verliebter LĂ€h-
mung. Er war empfindsam, und sein GefĂŒhl war immer bewegt von GrĂŒbeleien, Gru-
ben, wogenden TĂ€lern und Bergen ; er war niemals gleichgĂŒltig, sondern sah in allem
ein GlĂŒck oder ein UnglĂŒck und hatte dadurch stets die Gelegenheit zu lebhaften
Gedanken. (MoE 60)
Die in Walters Habitus manifeste âGegenwart der Vergangenheitâ, die nach
dem donquichottesken Muster eine âArt umgekehrter Vorwegnahme der Zu-
kunftâ darstellt, kann deshalb so komische Wirkung entfalten, weil der Sinn
seiner âwahrscheinlichen Zukunftâ als KĂŒnstler allmĂ€hlich âLĂŒgen gestraft
wirdâ und seine âDispositionen, die infolge eines Effekts der Hysteresis [âŠ]
schlecht an die objektiven Möglichkeitenâ seiner (klein)bĂŒrgerlichen Beam-
tenexistenz âangepaĂt sindâ, nunmehr gegenstandslos und damit absurd er-
scheinen â oder mit anderen Worten : âweil das Milieu, auf das sie real treffen,
zu weit von dem entfernt ist, zu dem sie objektiv passenâ.170 Sein mehr als
positives Selbstbild, das alle durchaus vorhandenen Anfechtungen angesichts
der bitteren RealitÀt schnell und dauerhaft zu verdrÀngen in der Lage ist171,
unterliegt im weiteren Verlauf des Romans allerdings einer bezeichnenden
Verschiebung :
[P]lötzlich bedeutete Walter dieses BedĂŒrfnis, sich als Mann zu bewĂ€hren, gerade so
viel, wie den Kampf gegen die versprengten Reste des aus seiner Jugend ĂŒbriggeblie-
benen Aberglaubens zu fĂŒhren, daĂ man etwas Besonderes sein mĂŒsse. âMan muĂ
nichts Besonderes sein !â sagte er sich trotzig. Es erschien ihm als eine Feigheit, diese
Einbildung nicht entbehren zu können [âŠ] ; das Verlangen, das ihn in seiner Jugend
beherrscht hatte, ein Titan und Feuerbringer zu werden, zeitigte es nun als letzte
Folge, daĂ er den Glauben, man mĂŒsse zuvor wie alle werden, mit einiger Ăber-
treibung aufnahm ; [âŠ] er wĂŒnschte sich, den groĂen das Leben tragenden Men-
170 Bourdieu : Sozialer Sinn, S. 116.
171 Vgl. MoE 61 : âWalter war furchtsam, und die Erscheinungen, die er an sich wahrnahm, hinder-
ten ihn nicht nur an der Arbeit, sondern sie Àngstigten ihn auch sehr, denn sie waren scheinbar
so unabhÀngig von seinem Willen, daà sie oft auf ihn den Eindruck eines beginnenden geisti-
gen Verfalls machten.â
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208