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393âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
Woyzeck-Fragment Reverenz180, zu dem der Moosbrugger-Komplex inten-
sive thematische BezĂŒge aufweist. Musil arbeitete in seinem darstellerischen
Collage-Verfahren mit wörtlichen Ăbernahmen ganzer Passagen aus zeitgenös-
sischen Wiener Tageszeitungen181, hielt sich auch in seinen Beschreibungen
erstaunlich genau an die dort befindlichen Abbildungen, steigerte aber âden
Kontrast zwischen dem Mann und seinen Taten bis aufs ĂuĂersteâ182, indem
er das in den Quellen als gutmĂŒtig beschriebene Erscheinungsbild des Mör-
ders besonders hervorhob183 und sogar mit physiognomischen âZeichen der
Gotteskindschaftâ (MoE 69) versah.184 Er âunterdrĂŒckte nur genaue Ortsan-
gaben und Uhrzeiten, ĂŒberfĂŒhrte die direkte Rede in ErzĂ€hlung, achtete aber
darauf, besonders charakteristische Wendungen, die den Bildungsanspruch des
Mörders betonen, [âŠ] zu konservieren. Bei der Umsetzung der Zeitungsbe-
richte entstand der Mehrwert der dichterischen Prosa durch Metapher und
Vergleichâ185, zwei von Musil generell extensiv benutzte Figuren sprachlicher
Anreicherung. Indem die gruseligen Tatsachen im Fall Moosbrugger schon
am Anfang des einschlÀgigen Handlungskomplexes verraten werden, können
die Leser und Leserinnen ihre Aufmerksamkeit ganz der kĂŒnstlerischen Ge-
staltung und den gedanklichen Implikationen widmen ; der ErzĂ€hler des âin-
tellektuellen Romansâ vermeidet durch den weitgehenden Verzicht auf eine
spannende Handlungsfolge programmatisch die Ablenkung vom gedanklich
âWesentlichenâ, nĂ€mlich von der durch Musil recht unbescheiden avisierten
âgeistigen BewĂ€ltigung der Weltâ im Medium des Romans (GW 7, 942).
Christian Moosbrugger ist beim Einsetzen der BasiserzÀhlung vierunddrei-
Ăig Jahre alt (vgl. MoE 68), also genauso alt wie Walter und zwei Jahre Ă€lter als
180 BĂŒchners historisches Vorbild trug den Vornamen Christian, wĂ€hrend er seine Dramenfigur
Franz nannte â wie zunĂ€chst auch Musil seine Figur. Vgl. dazu Wilkins : Gestalten und ihre
Namen, S. 55 f.; Howald : Ăsthetizismus und Ă€sthetische Ideologiekritik, S. 213, Anm. 59 ; Kohl-
mayer : Diskurse um die Figur Moosbrugger, S. 51 f.
181 Vgl. zuerst Corino : ZerstĂŒckt und durchdunkelt. Weniger dazu, sondern vor allem zur Darstel-
lung von Presse und Journalismus im ersten Moosbrugger-Kapitel jetzt auch Bernauer : Zei-
tungslektĂŒre im âMann ohne Eigenschaftenâ, S. 33â61.
182 So Corino : Musil [2003], S. 885.
183 Vgl. folgende Auskunft des ErzĂ€hlers : âMoosbrugger war ein Zimmermann, ein groĂer, breit-
schultriger Mensch ohne ĂŒberflĂŒssiges Fett, mit einem Kopfhaar wie braunes Lammsfell und
gutmĂŒtig starken Pranken. GutmĂŒtige Kraft und der Wille zum Rechten sprachen auch aus
seinem Gesicht [âŠ]. Wenn er bemerkte, daĂ man ihn ansah, zog ĂŒber sein breites, gutmĂŒtiges
Gesicht mit dem ungepflegten Haar und dem Schnurrbart samt dazugehöriger Fliege ein LÀ-
chelnâ (MoE 67 f.).
184 Ăhnlich schon zuvor : âMan blieb wie eingewurzelt stehn, wenn man diesem von Gott mit
allen Zeichen der GĂŒte gesegneten Gesicht zum erstenmal begegneteâ (MoE 68).
185 Corino : Musil [2003], S. 886.
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Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208