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402 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
heitsverbrecher und vor einem ĂŒberspannten Erziehungsidealismusâ209. Musil
lÀsst solche sozialpsychologischen Hinweise seitens der Wissenschaft direkt
in die Konstruktion seiner Romanfigur einflieĂen, was ihn jedoch nicht davon
abhĂ€lt, sie bisweilen ins Groteske zu ĂŒberdehnen :
Der stĂ€rkste Trieb wendete von Zeit zu Zeit sein Wesen grausam nach auĂen ; aber
vielleicht hatte ihm wirklich, wie er sagte, nur die Erziehung und die Gelegenheit
gefehlt, um etwas anderes daraus zu machen, einen MassenwĂŒrgengel oder Theater-
brandstifter, einen groĂen Anarchisten ; denn die Anarchisten, die sich in Geheim-
bĂŒnden zusammentun, nannte er mit Verachtung die falschen. (MoE 71)
Generell besteht eine gewaltige Differenz zwischen der Fremd- und Selbst-
wahrnehmung Moosbruggers, wie der ErzĂ€hler erneut in einer EngfĂŒhrung
unterschiedlicher Perspektiven zeigt : âEr war ersichtlich krank ; aber wenn
auch offenbar seine krankhafte Natur den Grund fĂŒr sein Verhalten abgab,
die ihn von den anderen Menschen absonderte, ihm kam das wie ein stÀrke-
res und höheres GefĂŒhl von seinem Ich vor.â (MoE 71) Dieser eigenwilligen
Sicht der Dinge, die in sich durchaus konsistent ist210, sucht Moosbrugger nun
Durchbruch zu verschaffen â vergeblich, wie sich versteht :
Sein ganzes Leben war ein zum Lachen und Entsetzen unbeholfener Kampf, um
Geltung dafĂŒr zu erzwingen. Er hatte schon als Bursche einem Brotherrn die Finger
gebrochen, als dieser ihn zĂŒchtigen wollte. Einem andern verschwand er mit Geld ;
aus notwendiger Gerechtigkeit, wie er sagte. Er hielt es auf keinem Platz lange aus ;
solang er in seiner wortkarg mit freundlicher Ruhe und riesigen Schultern arbeiten-
den Art, wie es anfangs immer geschah, die Leute in Scheu hielt, blieb er ; sobald sie
vertraulich und respektlos mit ihm umzugehen begannen, als wĂŒrden sie ihn nun
erkannt haben, packte er sich fort, denn ein unheimliches GefĂŒhl ergriff ihn dann, so
als wÀre er nicht fest in seiner Haut. (MoE 71)
Wenn der Umgang seiner sozialen Umgebung mit Moosbrugger dadurch ver-
trauter wird, dass die GesprĂ€chspartner ihn fĂŒr âerkanntâ halten und ihn somit
209 Kretschmer : Medizinische Psychologie, S. 164.
210 Vgl. Wefelmeyer : Kultur und Literatur, S. 201 f.: âDie polyperspektivische Betrachtung gleicher
Ereignisse, die Musil bereits frĂŒh in Nietzsches philosophischer Analyse kennengelernt hatte,
zeigt, daà andere Möglichkeiten der Wahrnehmung und ErklÀrung denkbar sind und daà diese
Möglichkeiten in sich ebenfalls logisch und verstÀndlich sind, auch wenn sie sich untereinander
ausschlieĂen.â
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Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208