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426 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
empfundene KrĂ€nkung, als Jude in PreuĂen kein Offizier werden zu können294,
instrumentalisiert Musil erzĂ€hlerisch dahingehend, dass er sie â durchaus
maliziös und im Gegensatz zum historischen Sachverhalt295 â fĂŒr den Millio-
nÀrssohn durch eine komfortable UntauglichkeitserklÀrung lindert und damit
wieder zum Aufweis der Privilegiertheit nutzt. In anderer Hinsicht hÀlt er sich
hingegen ziemlich genau an die biografisch verbĂŒrgten Details :
Rathenaus Leitbild war zeitweilig der ostelbische Junker. Durch die Identifikation
mit dem Adel konnte er das eigene Jude-Sein innerlich leichter von sich abspalten.
Ein Weg von der Diskriminierung zur gesellschaftlichen Gleichberechtigung schien
so fĂŒr ihn gefunden. [âŠ] Rathenaus Identifizierung mit dem Bild des adeligen Guts-
besitzers entsprang weniger einer verbreiteten Tendenz im GroĂbĂŒrgertum, sich zu
âaristokratisierenâ. Eher handelte er hier spezifisch als Jude, der nach gesellschaftlicher
Gleichberechtigung suchte.296
Es ist wohl auch aus diesem Umstand zu erklÀren, dass Musils Arnheim trotz
der ihm gespendeten âAufmerksamkeit und Bewunderungâ, die âeinen ande-
ren Mann vielleicht miĂtrauisch und unsicher gemachtâ hĂ€tten, erklĂ€rterma-
Ăen keinerlei Argwohn hegt, das sei alles nur âseinem Gelde zu verdankenâ.
Er verlegt sich vielmehr auf ein âchristlich-germanisches Urvertrauenâ, denn
âArnheim hielt MiĂtrauen fĂŒr ein Zeichen von unadeliger Gesinnung, das sich
ein Mann auf seiner Höhe nur auf Grund eindeutiger kaufmÀnnischer Aus-
kĂŒnfte gestatten dĂŒrfeâ (MoE 419). Das bei seinem Vater diagnostizierte und
bei sich selber eher prĂ€tendierte âUrvertrauenâ ist bestens dazu angetan, die
294 Vgl. dazu Brenner : Rathenau, S. 57â63 : âEs war 1890 in Deutschland [âŠ] undenkbar fĂŒr einen
Juden, Offizier zu werden. WÀre Walther [Rathenau, N. C. W.] Christ gewesen, so wÀre er
nach seiner EinjĂ€hrigenzeit in Pasewalk â falls er sich nicht besonders hĂ€tte hervortun wol-
len â zumindest als Leutnant entlassen worden. Als Jude konnte er selbst bei hervorragender
Eignung und ungewöhnlichem Ehrgeiz niemals mehr als den Rang eines Vizewachtmeisters
erreichen. / Walther, der fĂŒr das MilitĂ€r entbrannt war und in jeder Gemeinschaft unter den
Besten zu sein strebte, hat in Pasewalk, unter all den stolzen Junkern aus der Mark, nicht mehr
erreichen können als einen niederen Mannschaftsdienstgrad.â (S. 58) Heimböckel : Rathenau
und die Literatur seiner Zeit, S. 29 f., erwĂ€hnt, dass Rathenau ânicht einmal zur PrĂŒfung zum
Reserveoffizier zugelassenâ wurde, und hebt âdiese fĂŒr ihn schwerwiegende Diskriminierungs-
erfahrungâ hervor, die ihm bewusst gemacht habe, âdaĂ er als Jude nur BĂŒrger zweiter Klasse
warâ. Ăhnlich Schölzel : Rathenau, S. 34â37, der hinzufĂŒgt : âRathenau hat sich [âŠ] mit der Be-
nachteiligung von Juden beim MilitĂ€r schon vor seiner Dienstzeit auseinandergesetzt.â (S. 35)
295 Vgl. ebd., S. 35 : âVom Oktober 1890 bis September 1891 versah er [Rathenau, N. C. W.] seinen
MilitĂ€rdienst als EinjĂ€hrig-Freiwilliger beim Garde-KĂŒrassier-Regiment Königin in Pasewalk.â
296 Ebd.
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Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208