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438 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
Arnheim verneint damit die eminente âEigenschaftslosigkeitâ seiner eigenen
Existenz und TĂ€tigkeit, die er sich zu statuieren weigert. Mehr noch : In Un-
terschied zum neureichen Lottogewinner prÀtendiert der bereits als reicher
Erbe geborene Arnheim in jeder Faser seines âganzheitlichenâ Wesens eine ab-
gerundete âEigenschaftlichkeitâ, die er selber nicht als erworben, sondern nur
als angeboren wahrzunehmen bereit ist. Mit feiner Ironie legt Musils ErzÀhler
diese Struktur offen :
Geld spielt keine Rolle ; das ist richtig, und einige tausend oder zehntausend Mark sind
etwas, dessen Dasein oder Fehlen ein reicher Mann nicht empfindet. Reiche Leute
versichern denn auch mit Vorliebe bei jeder Gelegenheit, daĂ das Geld am Werte
eines Menschen nichts Àndere ; sie wollen damit sagen, daà sie auch ohne Geld soviel
wert wĂ€ren wie jetzt, und sind immer gekrĂ€nkt, wenn ein anderer sie miĂversteht.
Leider widerfÀhrt ihnen das gerade im Verkehr mit geistvollen Menschen nicht selten.
Solche besitzen merkwĂŒrdig oft kein Geld, sondern nur PlĂ€ne und Begabung, aber sie
fĂŒhlen sich dadurch in ihrem Wert nicht gemindert, und nichts scheint ihnen nĂ€her zu
liegen, als einen reichen Freund, fĂŒr den das Geld keine Rolle spielt, zu bitten, daĂ er
sie aus seinem ĂberfluĂ zu irgendeinem guten Zweck unterstĂŒtze. Sie begreifen nicht,
daĂ der reiche Mann sie mit seinen Ideen unterstĂŒtzen möchte, mit seinem Können
und seiner persönlichen Anziehungskraft. Man bringt ihn auf diese Weise auĂerdem in
einen Gegensatz zu der Natur des Geldes, denn diese will die Vermehrung genau so,
wie die Natur des Tieres die Fortpflanzung anstrebt. (MoE 420)
Die essayistische Reflexion312 leitet Arnheims âfesteâ und schmeichelhafte
âĂberzeugungâ, âdaĂ es der Mensch ist, der dem Besitz seine Bedeutung
leiht, und nicht der Besitz dem Menschenâ (MoE 421), zuletzt aus der âNatur
des Geldesâ selber ab313, ja erklĂ€rt das von der Zivilisation eingefĂŒhrte Geld
312 Sie mutet fast an wie ein nachgetragener Kommentar zu einem von Flaubert in der Ăducation
sentimentale gestalteten Konflikt zwischen dem verhĂ€ltnismĂ€Ăig wohlhabenden Romanhelden
Frédéric Moreau und dem armen Freund Charles Deslauriers, der vergeblich auf die finanzielle
UnterstĂŒtzung FrĂ©dĂ©rics fĂŒr seine eigenen Projekte hofft. NĂ€herliegend ist aber die Anregung
Musils durch Thomas Buddenbrooks AusfĂŒhrungen ĂŒber den âGeschĂ€ftsmannâ alten Typs ; vgl.
Mann : Buddenbrooks, S. 293 f. Wenn allerdings in Heinrich Breloers Buddenbrooks-Verfilmung
der Amsterdamer Kaufmann van Kellen dem LĂŒbecker Thomas Buddenbrook rĂ€t : â[D]as Geld
will sich vermehrenâ, dann ist vielleicht sogar Musil der Vater des Gedankens, denn dieser Satz
findet sich nicht in Manns Originaltext, sondern wurde von Breloer hinzugefĂŒgt.
313 Vgl. dazu Blaschke : Der homo oeconomicus und sein Kredit, S. 303, Anm. 49 : âDie traditio-
nelle Kritik am Zinsgewinn als âunnatĂŒrlicherâ Mehrwert von Aristoteles ĂŒber die Scholastik
bis Marx wird hier von Arnheim umgekehrt : er prÀsentiert eine kapitalistisch-naturalisierende
Definition des Geldes.â
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Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208