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450 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
ein Zeichen von Eingeweihtheit galt, von diesem, dem Gesicht des Publi-
kums entzogenen, heimlichen Mann zu wissen ; ohne daĂ er ihn ĂŒbrigens
selbst verstandâ (MoE 385). Arnheim kann hermetische âAndeutungenâ der
Dichtung stets nur nach MaĂgabe der âim Schwangeâ befindlichen Moden
deuten, indem er sie etwa âmit den Reden vom Erwachen einer neuen Seeleâ
verbindet oder âmit den langen mageren MĂ€dchenkörpern, die man damals
im Bilde liebte und durch ein Lippenpaar auszeichnete, das wie ein fleischi-
ger BlĂŒtenkelch aussahâ (MoE 385), wie der ErzĂ€hler in Anspielung auf die
vom Jugendstil geprÀgte Wiener Malerei eines Klimt oder Schiele erwÀhnt.
Kunst und Kultur haben fĂŒr Arnheim vor allem eine auĂerkĂŒnstlerische Funk-
tion : Sie dienen ihm neben der bloĂen Unterhaltung und âVerbesserung des
Lebensstandardsâ in erster Linie als Medium sozialer Distinktion und âLe-
gitimation wirtschaftlicher TĂ€tigkeitâ340, gehen also letztlich ihrer Autono-
mie bzw. Eigenwertigkeit verlustig. Indem er mittels der Kultur bzw. seines
pseudowissenschaftlichen und mystizistischen Geredes eine geschickte Ca-
mouflage seiner handfesten ökonomischen Interessen betreibt (vgl. MoE 616
sowie schon GW 7, 940), beraubt Arnheim die Kunst ihrer manifest âanti-
ökonomischenâ GeschĂ€ftsgrundlage und damit des Freiraums fĂŒr durchaus
auch âgesellschaftlich relevante[ ] Experimenteâ341, die ihr in Musils kĂŒnstle-
rischem SelbstverstĂ€ndnis nicht nur zustehen, sondern ausdrĂŒcklich aufgetra-
gen sind.
Der â wie Rathenau342 â in seiner Jugend selbst dichterisch tĂ€tige Arnheim
hingegen tauscht die Gedichte der Poeten sukzessive gegen das âGedicht
des Lebensâ, das âvor allen ĂŒbrigen Gedichtenâ den Vorzug besitzt, âdaĂ es
gleichsam in groĂen Buchstaben gesetzt ist, wie immer sein Inhalt sonst be-
schaffen sein mögeâ (MoE 387). Zwar verleugnet er keineswegs âdie schönen
Regungen der Kunstâ, doch prĂ€feriert er als Erwachsener in den entscheiden-
den Momenten das âschaffende und recht beschaffene Lebenâ (MoE 387)
gegenĂŒber dem, was ihn âfrĂŒher bewegt hatâ und ihm nunmehr â in Ana-
logie zu Leinsdorfs beliebtem Diktum (vgl. MoE 322) â âânur Literaturâ zu
sein scheintâ, weil es âbestenfalls eine schwĂ€chliche und verworrene, meistens
aber eine widerspruchsvolle, sich selbst aufhebende Wirkung aus[ĂŒbt], die in
gar keinem VerhÀltnis zu dem Aufheben steht, das man von ihrer Veranstal-
tung machtâ (MoE 387). Wenngleich er solche Gedanken niemals öffentlich
Ă€uĂern wĂŒrde, ja im Gegenteil mit Nachdruck âeine Verschmelzung beider
340 Die Zitate stammen von Groppe : âDas Theorem der Gestaltlosigkeitâ, S. 79.
341 Ebd.
342 Vgl. Heimböckel : Rathenau und die Literatur seiner Zeit, S. 37â47.
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Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208