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456 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
seiner FilmĂ€sthetik Der sichtbare Mensch hat BĂ©la BalĂĄzs â nicht unĂ€hnlich dem
spĂ€teren berĂŒhmten Diktum Bertolt Brechts ĂŒber die Problematik kĂŒnstleri-
scher RealitĂ€tswiedergabe in der Moderne356 â bemerkt, es liege
im Wesen des GroĂkapitalismus, daĂ er abstrakt ist, daĂ die fĂŒhrenden Gewalten in
ihm und der Kampf, in dem sie aufeinanderprallen, unsichtbar sind. Es können die
verwegensten und phantastischsten Abenteuer sein, in die sich ein groĂer Finanz-
mann stĂŒrzt, seine Tat dabei ist nur ein Gedanke, ein EntschluĂ, eine Besprechung
mit dem GewÀhrsmann und höchstens noch eine Rede im Aufsichtsrat. Auch die
entscheidende Szene, in der er seinen Namen unter einen Brief oder Vertrag setzt, ist
eigentlich nicht pittoresk, nicht dramatisch genug, um die Entscheidungsszene eines
Films darzustellen. / Im Leben ist die Unsichtbarkeit gerade das Unheimlichste. Auf
dem Film ist sie aber nicht unheimlich, weil sie ĂŒberhaupt nicht vorhanden ist. Un-
sichtbares kann nÀmlich nicht photographiert werden.357
Dem hÀtte Musil sicherlich zugestimmt, dabei aber auf die abweichenden dar-
stellerischen Potenzen der Literatur verweisen können, insbesondere auf die
genuinen Möglichkeiten des essayistischen Romans. Dieser nÀmlich ist im Un-
terschied zum damaligen Film durchaus in der Lage, âabstrakteâ PhĂ€nomene
zu thematisieren, das âUnsichtbareâ sinnfĂ€llig zu machen, ohne dabei auf die
bloĂe Wiedergabe von Gedanken, EntschlĂŒssen, Besprechungen oder Reden
beschrÀnkt zu sein. Inwiefern er das vermag, sollte am Beispiel der Romanfi-
gur Arnheim deutlich werden, in der sich gerade die abstrakten, gleichwohl
romankonstitutiven Grundbegriffe des Mann ohne Eigenschaften auf charakteris-
tische Weise brechen : Arnheims vorgebliche âGanzheitâ und âEigenschaftlich-
keitâ erweisen sich als prĂ€tendierte Substanz, mit der er der âGestaltlosigkeitâ
der modernen Welt publicitytrÀchtig zu entkommen sucht, obwohl er tatsÀch-
lich als Universaldilettant einer glaubhaften Grundlage entbehrt. Trotz seiner
irrationalen Vorliebe fĂŒr schwĂŒlstige Mystizismen und seiner zum Teil sehr ein-
seitigen Sicht auf die gesellschaftliche RealitÀt fungiert er im Roman letztlich
als Vertreter des âWirklichkeitssinnsâ, wie Musils ErzĂ€hler seiner Leserschaft
recht bald und ohne Umschweife verrĂ€t : âArnheims Dasein war von TĂ€tigkeit
ausgefĂŒllt ; er war ein Mann der Wirklichkeitâ (MoE 186). Inwiefern sich diese
356 Vgl. Brecht : Der DreigroschenprozeĂ, S. 469, wonach âweniger denn je eine einfache âWieder-
gabe der RealitĂ€tâ etwas ĂŒber die RealitĂ€t aussagt. Eine Fotografie der Kruppwerke oder der
AEG ergibt beinahe nichts ĂŒber diese Institute. Die eigentliche RealitĂ€t ist in die Funktionale
gerutscht.â
357 BalĂĄzs : Der sichtbare Mensch, S. 102 ; vgl. auch S. 104.
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208