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475âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
sofern der wenig kunstsinnigen Einstellung des realpolitisch ausgerichteten
Diplomaten Tuzzi. Im Unterschied zu diesem bĂŒrgerlichen FunktionĂ€r hat
der Angehörige des Hochadels indes seinem Stand gemÀà durchaus Sinn
fĂŒr Symbolpolitik, was sich in seinen zahlreichen zeremoniösen und senten-
zenhaften Formeln niederschlÀgt, etwa in seiner von General Stumm (im
nachgelassenen Kapitelentwurf âBeschreibung einer kakanischen Stadtâ)
kolportierten komisch-paradoxalen Devise angesichts der Kakophonie in
der Parallelaktion : â[W]ir mĂŒssen unsere Einigkeit kundgeben ; das ist weni-
ger widerspruchsvoll, als es den Anschein hat, aber auch weniger einfach !â
(MoE 1449, nach M I/8/10)
Bei allem versteckten Spott des Musilâschen ErzĂ€hlers ĂŒber die verqueren
Ansichten und ĂuĂerungen Leinsdorfs in politicis sollte sich die Analyse je-
doch nicht verleiten lassen, den romanesken Vertreter der kakanischen Hoch-
aristokratie als âliebenswĂŒrdigen, vielleicht senilenâ Greis zu unterschĂ€tzen.421
So besticht der scheinbar einfĂ€ltige und harmlose âPrivatierâ nicht allein durch
ĂŒberraschende politische PrĂ€senz, sondern auch durch zum Teil erstaunlich
hellsichtige Diagnosen der modernen Welt und ihrer Erfordernisse (vgl. etwa
MoE 233 f. u. 597) â was habituell ĂŒbrigens keineswegs so unschlĂŒssig ist,
wie es, vordergrĂŒndig betrachtet, scheinen mag.422 Leinsdorf ist zwar kon-
servativ, vertritt aber eben â wie bereits angedeutet â keinen bloĂ traditio-
nellen, sondern einen in mancher Hinsicht modernen, etwa ökonomisch
aufgeschlossenen Konservativismus, der den massiven gesellschaftlichen und
wirtschaftlichen VerÀnderungen Rechnung trÀgt und sich in dieser ideologi-
schen FlexibilitÀt weniger im Austrofaschismus, sondern erst in den erfolgrei-
cheren christlichsozialen Bewegungen der Nachkriegszeit durchsetzen sollte
â getreu der schon von Musils ErzĂ€hler formulierten Einsicht, âdaĂ das im
Ganzen Beharrende nicht nur konservativ, sondern auch das Fundament aller
Fortschritte und Revolutionen istâ (MoE 130). Die zum Teil unentwirrbar wir-
kende Vermengung âvorwĂ€rts-â bzw. ârĂŒckwĂ€rtsweisenderâ Strukturelemente
und Ideologeme, die in ihrem Zusammenspiel die Anlage der Leinsdorf-Figur
â wie auch der von ihm geleiteten Parallelaktion â prĂ€gen423, lassen das von
421 Das Zitat und eine Kritik an der damit bezeichneten Deutungstradition findet sich bei Howald :
Ăsthetizismus und Ă€sthetische Ideologiekritik, S. 256, Anm. 172.
422 Vgl. dagegen ebd., S. 255 : âVon Musils ĂŒbriger Figurengestaltung her besonders auffĂ€llig sind
[âŠ] jene Stellen, in denen Leinsdorf Erkenntnisse Ă€ussert, ĂŒber die er gemĂ€ss seinem intellek-
tuellen Habitus gar nicht verfĂŒgen könnte (GW 1, 234 ; 597). Musils Beschreibung an diesen
Stellen bleibt hilflos aporetisch.â
423 Kuzmics/MozetiÄ : Musils Beitrag zur Soziologie, S. 232, weisen darauf hin, âdaĂ sowohl das
Zustandekommen der Parallelaktion wie auch deren Zusammensetzung und Wirken die ZĂŒge
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Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208