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484 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
oder Ulrichs Vater, die aufgrund ihrer vorteilhafteren Kapitalausstattung mehr
Stolz â und damit ein gröĂeres Eigengewicht im KrĂ€ftespiel des Macht-Feldes
â entwickeln konnten. FĂŒr die alteingesessene Hocharistokratie bargen die
inflationÀren Erhebungen in den niederen Adelsstand aber allem Anschein
zuwider noch einen weiteren erheblichen Vorteil :
In dem MaĂ, in dem das durch familiale Zugehörigkeit ĂŒbertragene soziale Kapi-
tal maĂgeblich fĂŒr den Zugang zu bestimmten leitenden Positionen blieb, stellte die
kontrollierte Inflation von Adelstiteln niederen Ranges eine wirkungsvolle Verteidi-
gung des adeligen Korps dar. Obendrein konnte diese Inflation die Obsoletheit tradi-
tioneller Standesschranken glauben machen. TatsÀchlich wurde der Aufstieg in den
Adel zum Einsatz bĂŒrgerlicher Strategien, was die politische LegitimitĂ€t des Hofes
und der Feudalaristokratie nur noch verstÀrkte. Diese besaà sÀmtliche Mittel zur
strikten Kontrolle der ExklusivitÀt bestimmter Positionen, die einer kleinen Anzahl
von Familien trotz des numerischen Anwachsens der Gruppe in ihrer Gesamtheit
reserviert waren.450
Eine Soziologie, die sich in ihrer analytischen Anstrengung allein an diskur-
sive â etwa formaljuristische â Codifizierungen hĂ€lt451, wird dieser Doppelbö-
digkeit in der Geschichte der HerrschaftsverhÀltnisse schwerlich auf die Spur
kommen. Aus ihr resultiert jedoch insgesamt ein nicht zu unterschÀtzender
âKastencharakter des gesellschaftlichen Lebensâ in der Habsburgermonarchie,
âder sich gegen alle ökonomischen VerĂ€nderungen und trotz des Wachstums
der Hauptstadt, deren Einwohnerzahl von 287.824 im Jahr 1857 auf 721.551
450 Ebd., S. 71 f.
451 Vgl. Luhmann : Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 733 f.: âSchon im 18. Jahrhundert kann
man von einer PrimÀreinteilung der Gesellschaft nach Schichten eigentlich nicht mehr spre-
chen. Die offizielle Darstellung der Gesellschaft hĂ€lt zwar â vor allem mit Hilfe rechtlicher
Qualifizierungen, polizeistaatlicher Regulierungen und Steuerstatistiken â noch an den alten
Einteilungen fest. Damit können jedoch die Entwicklungstendenzen in struktureller wie se-
mantischer Hinsicht nicht mehr begriffen werden. Was jetzt Fortschritt oder AufklĂ€rung heiĂt,
löst die alten Ordnungen auf. [âŠ] Seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts erfolgt die
Ablösung der Funktionssysteme von SchichtprÀmissen und die Neutralisierung von Schichtein-
flĂŒssen zunehmend gezielt â so in der juristischen Erfindung der allgemeinen RechtsfĂ€higkeit
oder in der Umstellung des Erziehungssystems auf öffentliche Schulen fĂŒr die Gesamtbevölke-
rung [âŠ]. Der ProzeĂ kann heute als abgeschlossen gelten. Herkunft spielt fĂŒr die Funktions-
systeme kaum noch eine Rolle [âŠ].â Es ist bezeichnend, dass Luhmann bei solchen pauscha-
lisierenden und statistisch ungedeckten Behauptungen mit keinem Wort auf die kontrÀren und
durch reiches empirisches Material veranschaulichten Ergebnisse Bourdieus eingeht ; vgl. etwa
Bourdieu : Die feinen Unterschiede ; ders.: Der Staatsadel ; mehr dazu unten.
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208