Page - 486 - in Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
Image of the Page - 486 -
Text of the Page - 486 -
486 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
Assimilation an den Adel, nachdem es mit der Verfassung von 1867 end-
lich âvöllige Religions- und Gewissensfreiheitâ erlangt hatte.457 Doch : âTrotz
der Aufhebung der juristischen Hindernisse blieben die gesellschaftlichen
Barrieren sichtbar und starr.â458 An diesem Beispiel lĂ€sst sich sehr anschau-
lich zeigen, dass und inwiefern eine gewichtige EinschrÀnkung der von der
Systemtheorie vertretenen These einer allumfassenden âNeutralisierung von
SchichteinflĂŒssenâ459 angebracht ist. Denn obwohl âdas jĂŒdische BĂŒrgertum
am Ende des 19. Jahrhunderts einen entscheidenden Platz in der Finanzwelt
und dem Journalismusâ besetzen konnte, âwo die wachsende Kontrolle der
GroĂbanken sich mit der sozialen Logik der journalistischen Laufbahnen
verbandâ460, Ă€nderte die hohe strukturierte âEigenkomplexitĂ€t [âŠ] des
Rechtssystemsâ461 auch der Habsburgermonarchie wenig an der fortgesetz-
ten praktischen Diskriminierung. Dieses charakteristische Zusammenspiel
von rechtlicher Gleichstellung und der alltÀglichen Erfahrung einer Negie-
rung dieser Errungenschaft durch die Gesellschaft fĂŒhrte zu einer beson-
deren Verbundenheit des jĂŒdischen BĂŒrgertums mit dem multiethnischen
Staat :
Die[ ] Position in den SchlĂŒsselbereichen des Staatsgetriebes, den Finanzen und der
Information, kombiniert mit den sozialen AufstiegswĂŒnschen in die oberste Schicht
des geadelten BĂŒrgertums, der vollendetsten Verwirklichung des Traumes von der
Assimilierung, machten aus der alten jĂŒdischen Gemeinde Wiens die loyalste Frak-
tion des zur Treue gegenĂŒber dem Haus Habsburg konvertierten Liberalismus. Unter
all den Gruppen, aus denen sich die Monarchie zusammensetzte, waren die Juden
seit dieser Zeit diejenige, die den Vielvölkerstaat am eifrigsten stĂŒtzte, sie waren das
Staatsvolk par excellence.462
457 Ebd., S. 77 f.
458 Ebd., S. 79. Wie oben bereits erwÀhnt, entgehen PhÀnomene solcher Art, die einen Hiat zwi-
schen juristischer Codifikation und gesellschaftlicher Praxis erkennen lassen, dem Blick der auf
diskursive Faktoren fokussierten Systemtheorie Luhmannâscher PrĂ€gung ; vgl. etwa Luhmann :
Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 734.
459 Ebd. Dies gilt im Ăbrigen nicht allein von der Habsburgermonarchie, sondern auch fĂŒr West-
europa : So bestĂ€tigt Perrot : Funktionen der Familie, S. 113, fĂŒr das Frankreich des 19. und frĂŒ-
hen 20. Jahrhunderts den Befund âeiner starren Gesellschaft mit geringen MobilitĂ€tschancenâ.
460 Pollak : Wien 1900, S. 79. Offenbar zum Zweck der Abgrenzung von antisemitischen Stereo-
typen merkt Pollak dabei ausdrĂŒcklich an : âOhne daĂ man von einem HerrschaftsphĂ€nomen
sprechen könnte oder daĂ dies das Ergebnis einer bewuĂten Gruppenstrategie darstellteâ.
461 Luhmann : Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 734.
462 Pollak : Wien 1900, S. 79.
back to the
book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208