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490 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
Funktion Tuzzisâ abzeichnet, âden Machtpolitiker zu reprĂ€sentierenâ.473 Zu-
gleich â und das bleibt von Howald unbeachtet â wird diese Funktion bereits
hier auch inhaltlich gefĂŒllt, indem der Hofrat idealtypisch das ambivalente
VerhÀltnis Kakaniens zu Deutschland verkörpern soll. In weiteren Notizen, die
offenbar âunmittelbar nach der 1921 erfolgten Umbenennung des Romanhel-
den von Achilles in Andersâ ins Arbeitsheft 21 eingetragen wurden, wird dann
auch âseine zweite Funktion sichtbar : Ursache und Folie zu sein fĂŒr die idea-
lischen BemĂŒhungen seiner Frau Diotima (Tb 1, 578)â474. Im gegenwĂ€rtigen
Kontext interessieren jedoch insbesondere die machtpolitischen Aspekte der
Figur, deren private Kehrseite dann intensiver im Kapitel ĂŒber die figuralen
Konstellationen und Interaktionen des Romans zu diskutieren sein wird.
Schon ein frĂŒher Eintrag ins Arbeitsheft 9 vom FrĂŒhjahr 1919 belegt Musils
kritische BeschÀftigung mit der ministeriellen österreichischen Zivilbeamten-
schaft unter dem Stichwort âBĂŒrokratieâ : âSektionschef ist der hohe Beamte,
der nichts im eigenen Namen tun darf. Seine Macht ist weit ĂŒber der eines Fi-
nanzlandesdirektors, aber er kann sie nicht nach auĂen tragen.â (Tb 1, 433) Am
Beispiel der den historischen Kontext dieser ĂuĂerung bildenden Absetzung
von Oskar Kokstein â des Finanzlandesdirektors fĂŒr Wien, Niederösterreich
und das Burgenland â wegen âUnbotmĂ€Ăigkeitâ475 entwickelt Musil dann eine
resignative Diagnose traditioneller bĂŒrokratischer SubalternitĂ€t in Ăsterreich :
âGrundsĂ€tzlich das tun, was man fĂŒr recht hĂ€lt, nicht der Oberbehörde, son-
dern der Gesamtheit verantwortlich zu sein â ist nach monarchischer Ideolo-
gie eine AnmaĂung.â (Tb 1, 434) Ein wenig anders prĂ€sentiert sich die Situa-
tion allerdings an der Spitze der ministeriellen Hierarchie.476 So gewÀhrt eine
im unmittelbaren Anschluss an den Eintrag zur Causa Kokstein verzeichnete
ausfĂŒhrliche Notiz unter dem Stichwort âMachtpolitikerâ Einblick in Musils Bild
vom damaligen SelbstverstĂ€ndnis der leitenden MinisterialbĂŒrokratie :
Zivile Spielart : Pflichtmoral. Treitschke. Geschichte wird nur durch Persönlichkeiten
gemacht, nie durch Masse. Masse ist immer gemein (auch wenn sie aus Edlen be-
steht). Ideale mĂŒssen vor ihr aufgerichtet sein, vor ihr da sein ; Königstum, Ordnung.
FĂŒr Parlamentarismus gibt es nur die eine Entschuldigung, daĂ die Könige eben keine
473 Howald : Ăsthetizismus und Ă€sthetische Ideologiekritik, S. 296.
474 Ebd. Dagegen meint Fanta : Die Entstehungsgeschichte des âMann ohne Eigenschaftenâ,
S. 234, in der Figur Tuzzi sei âvon Anfang an eine Verschmelzung der Beamten- und Gatten-
funktionâ vorgesehen gewesen.
475 Vgl. den Kommentar Frisés (Tb 2, 278, Anm. 60).
476 Zu undifferenziert â weil zwischen leitender und subalterner BĂŒrokratie nivellierend â ist hier
die Argumentation von Howald : Ăsthetizismus und Ă€sthetische Ideologiekritik, S. 296.
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208