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491âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
rechten Könige sind. Dieser Typus ist gar nicht servil ; in diesen Kreisen viel freiere
Kritik des Monarchen als im BĂŒrgertum. Dynastisch sind sie eigentlich nur faute de
mieux ; ihr Ideal ist der Heldenkönig. Ideologisch sind sie schwach, die ideologische
Phantasie der Zeit arbeitet nicht in ihrer Richtung. Deshalb kommt etwas Verlogenes,
Ăsthetisierendes in sie. Stark sind sie dort, wo sie nicht ihre Idee ausmalen, sondern
das Bestehende kritisieren. Abneigung gegen das Gerede und Geschiebe des Parla-
mentarismus. (Tb 1, 434 f.; dazu Tb 2, 278, Anm. 63a)
Als âReprĂ€sentanten des zivilen Typusâ nennt Musil gleich mehrere ihm be-
kannte (reale oder fiktive) Personen â âRitter, Prof. Cossmann, Schager, den
Rotbartâ (Tb 1, 435 ; dazu Tb 2, 279) â, was fĂŒr die erzĂ€hlerische Figuren-
gestaltung Tuzzis insofern relevant ist, als es wiederum die Vorstellung einer
eindimensionalen Ausrichtung am Modell Hermann Schwarzwalds konterka-
riert : âGerade deren Vielzahl [âŠ] macht deutlich, dass er, anders als bei an-
dern Figuren, seine Gestalt nicht einem einzigen Vorbild nachbildet, sondern
verschiedene Anregungen zum Typus âMachtpolitikerâ zusammenschliesst.â477
Von âSchwarzwalds Spiegelbild Tuzziâ478 kann also nur sehr eingeschrĂ€nkt die
Rede sein. Musil sammelt vielmehr aus den unterschiedlichsten Quellen Ma-
terial fĂŒr seine Figur des hohen kakanischen Diplomaten â so in einer Notiz
des Arbeitshefts 21 sogar folgenden Verweis auf einen Artikel aus der Neuen
Rundschau vom Januar 1923, der gar keinen spezifisch österreichischen Dis-
kurs zum Thema hat : âLion ĂŒber Frankreichs Politik, Sektionschef Tuzzi in
den Mund legen. Etwa als Referat.â (Tb 1, 606) Der Autor reflektiert in der
Folge kritisch ĂŒber die narrative Darstellbarkeit komplexer (politischer) Zu-
sammenhĂ€nge im fiktionalen Raum : âWarum gehört das eigentlich nicht in
einen Roman ? Rein rational. Komplikation, der Einzelne, der diesen unĂŒber-
sichtlichen ZusammenhĂ€ngen ausgeliefert ist, ist nicht mehr rein rational.â
(Tb 1, 606) Genau dieser Widerspruch zwischen dem rationalen KalkĂŒl und
RĂ€sonnement der Politik und der ânichtratioĂŻdenâ Struktur des einzelnen Men-
schen bezeichnet den Punkt, an dem ihm zufolge die literarische Gestaltung
anderen Reflexionsformen ĂŒberlegen ist : Hier kann der bloĂe Diskurs nĂ€mlich
durch eine anschauliche Darstellung der damit verbundenen sozialen Prak-
tiken ergÀnzt und differenziert werden. Entsprechendes hat Howald bereits
indirekt angedeutet : WĂ€hrend in Musils frĂŒhen EintrĂ€gen ins Arbeitsheft 9
âder Akzent noch auf die beschrĂ€nkte ReprĂ€sentanz der Macht gelegtâ werde,
477 Ebd., S. 296 f.
478 So Corino : Musil [2003], S. 866.
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Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208