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559âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
stammt Hans Sepp aus eher kleinbĂŒrgerlichen VerhĂ€ltnissen668 bzw. â wie die
fĂŒr soziale Hierarchien und Distinktionen sensible Klementine Fischel tref-
fend formuliert â âaus âgar keinem Hausââ (MoE 313), ist also gesellschaftlich
deklassiert und ohne nennenswertes Erbe. Das entspricht auch seinem bevor-
zugten Umgang, âeinem Schwarm christlich-germanischer Altersgenossenâ,
âdie nicht die geringste Aussicht auf Versorgung boten, dafĂŒr aber das Kapital
verachteten und lehrten, daĂ noch nie ein Jude die FĂ€higkeit bewiesen habe,
ein groĂes Menschheitssymbol aufzustellenâ (MoE 206).
WĂ€hrend Leo Fischel diese jungen Leute, die sich bei seiner Tochter Gerda
einnisten, deshalb âantisemitische LĂŒmmelâ schimpft und âihnen das Haus
verbietenâ möchte (MoE 206), verteidigt seine Gattin sie mit dem Hinweis,
âes seien schlieĂlich bloĂ dumme Jungen ohne Lebensartâ ; nur in Abwe-
senheit ihres jĂŒdischen Ehemanns fĂŒgt sie hinzu, dass der âgeflissentlich zur
Schau getragene[ ] mystische[ ] Antisemitismusâ der jungen âChristgerma-
nenâ tatsĂ€chlich ânicht nur taktlosâ sei, âsondern auch ein Zeichen von in-
nerer Roheitâ (MoE 308). Die im Inneren der Hans-Sepp-Figur angesiedelte
âRoheitâ wird Ă€uĂerlich durch eine nicht sonderlich anziehende, ja unge-
pflegte körperliche Erscheinung ergĂ€nzt : Der zwar eitle Hans âwar ein un-
scheinbarer Junge, knochig, ohne groà oder krÀftig zu sein, wischte sich seine
HĂ€nde im Haar oder an den Kleidern ab und sah bei jeder Gelegenheit in
einen kleinen, runden, blechgefaĂten Taschenspiegel, weil ihn auf seiner un-
gepflegten Gesichtshaut immer irgendeine Pustel beunruhigteâ (MoE 551).
Ironischerweise stattet Musil seinen Paradeantisemiten nicht nur mit unreiner
Haut aus, sondern auch mit einem âdunkle[n] Schopfâ (MoE 483), und lĂ€sst
solcherart an die zeitgenössischen Propagandisten des nordischen Menschen
denken, die gemeinhin nicht durch auffallende Blondheit hervorstachen.
Was bei aller forcierten ModernitĂ€t der Musilâschen ErzĂ€hlkonstruktion
immer wieder zum Tragen kommt, ist neben der âUngleichzeitigkeitâ von des-
sen geistigen Konstituenten auch die narrative Anreicherung und plastische
Ausgestaltung mit historischem Material. Ulrichs Wien ist nicht zuletzt eben
Hitlers Wien, mit all seinen politischen Sektierern, esoterischen Weltverbes-
serern und pseudoreligiösen Ideologen.669 Dementsprechend gehört auch
Hans Sepp einem âSchwarm sonderbarer junger Leuteâ an (MoE 308), jenem
bereits erwĂ€hnten und ideologisch durchaus zeittypischen670 âchristgermani-
668 Howald : Ăsthetizismus und Ă€sthetische Ideologiekritik, S. 324, spricht dagegen in Anlehnung
an David S. Luft soziologisch relativ vage vom âdeutschen gewerblichen Mittelstandâ.
669 Vgl. Hamann : Hitlers Wien, bes. S. 285â336.
670 Vgl. Mogge : Jugendbewegung ; Ulbricht : Deutschchristliche und deutschglÀubige Bewegun-
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208