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569âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
die ĂŒberparteiliche Aufgabe Kakaniens gar nicht besser hervorkehren als auf
solche selbstlose Weiseâ (MoE 515). Leinsdorfs eigentlicher âPlanâ geht so-
gar noch weiter : âEs war schon beim Beginn der Parallelaktion einer seiner
Gedanken gewesen, gerade jenen Teil der Kakanier deutschen Stammes fĂŒr
sie zu gewinnen, der sich weniger dem Vaterlande als der deutschen Nation
zugetan fĂŒhlte.â (MoE 516)701 Dass ihm diese Absicht in keiner Weise gelingt,
sondern geradezu in ihr Gegenteil umschlÀgt, ist ein von Musil ironisch-an-
schaulich gestaltetes Exempel jener perpetuierten âpolitische[n] InkohĂ€renzâ,
von der Pollak hinsichtlich der altliberalen politischen EntscheidungstrÀger
der Donaumonarchie spricht.702 Es Àndert aber nichts an Leinsdorfs prinzipi-
ell deutschfreundlicher Gesinnung : Gerade âweil er selbst ein Deutscherâ ist,
ruft das staatsfeindliche âTreibenâ der âdeutschen AbtrĂŒnnigenâ in ihm âdie
schmerzlichsten von allen GefĂŒhlenâ hervor (MoE 516).703
In seiner völligen Verkennung der wirklichen politischen HintergrĂŒnde und
Ziele der Leinsdorfâschen Bestrebungen â wie auch der Parallelaktion gene-
rell704 â legt Hans Sepp hingegen jene Form kleinbĂŒrgerlicher Allodoxie an den
Ăberlegung eigens darauf aufbaute, daĂ Wisnieczky, der vor etlichen Jahren Minister gewesen
war, einem Kabinett angehört hatte, das von den deutschen Parteien gestĂŒrzt wurde und in
dem Rufe stand, eine hinterhĂ€ltige deutschfeindliche Politik getrieben zu haben.â (MoE 515 f.)
701 DafĂŒr hat er folgende BegrĂŒndung : âMochten die anderen âStĂ€mmeâ Kakanien, wie es ge-
schah, als ein GefĂ€ngnis bezeichnen und ihre Liebe fĂŒr Frankreich, Italien und RuĂland noch
so öffentlich ausdrĂŒcken, so waren das doch sozusagen entlegenere SchwĂ€rmereien, und kein
ernster Politiker durfte sie auf eine Stufe stellen mit der Begeisterung gewisser Deutscher fĂŒr
das Deutsche Reich, das Kakanien geographisch umklammerte und ihm bis vor einem Men-
schenalter einheitlich verbunden gewesen war.â (MoE 516)
702 Pollak : Wien 1900, S. 127.
703 Seine Strategie zielt deshalb darauf, âdaĂ man zuerst die âanderen österreichischen StĂ€mmeâ fĂŒr
den Patriotismus gewinnen mĂŒsse, denn wenn nur dies erst einmal gelungen sei, wĂŒrden sich
auch alle deutschen Kreise zum Mithalten gezwungen sehen [âŠ]. Also fĂŒhrte der Weg zu den
Deutschen zunÀchst gegen die Deutschen und zur Bevorzugung der anderen Nationen ; das
[âŠ] war es, was ihn Exzellenz Wisnieczky an die Spitze des Propagandakomitees stellen lieĂ,
der nach Leinsdorfs Urteil Pole von Geburt, aber Kakanier von Gesinnung war.â (MoE 516 f.)
Das unerwartete Ergebnis der skizzierten Bestrebungen ist fĂŒr die verzwickte kakanische Poli-
tik bezeichnend : âEs wĂŒrde schwer zu entscheiden sein, ob Se. Erlaucht sich bewuĂt war, daĂ
diese Wahl sich gegen den deutschen Gedanken richtete [âŠ] ; immerhin ist es wahrscheinlich,
daĂ er angenommen haben wird, mit ihr dem wahren deutschen Gedanken zu dienen. Allein
die Folge war, daĂ augenblicklich nun auch in deutschen Kreisen ein lebhaftes Treiben gegen
die Parallelaktion einsetzte, so daĂ diese am Ende auf der einen Seite fĂŒr einen deutschfeind-
lichen Anschlag angesehen und offen bekĂ€mpft wurde, wĂ€hrend sie auf der anderen fĂŒr ei-
nen pangermanischen galt und unter vorsichtigen Ausreden von Anfang an gemieden worden
war.â (MoE 517)
704 Vgl. Howald : Ăsthetizismus und Ă€sthetische Ideologiekritik, S. 327, Anm. 336.
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Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208