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573âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
entspricht Bourdieus Diagnose, wonach die Grundlage intellektueller KohÀ-
sion innerhalb der âkonservativen Revolutionâ generell âauf eine wesentlich
negative Weise bestimmtâ714 gewesen ist. Eine solche durch gemeinsame
Ablehnung gestiftete KohÀrenz wirkt auch in sozialer Hinsicht homogeni-
sierend, wie der ErzÀhler hinsichtlich der antiliberalen und antisemitischen
Gruppe um Hans Sepp hervorhebt : âMan geht nicht ganz fehl, wenn man
annimmt, daĂ das einzige ihnen allen Gemeinsame Leo Fischel war.â (MoE
482)
In diesem Zusammenhang greift Musil auf eine seinerzeit beliebte Denkfi-
gur zurĂŒck, die er allerdings in bezeichnender Weise wendet : Bei ihrer Cha-
rakterisierung von Hans Sepps Wirkung auf Gerda bedient sich zunÀchst
Klementine Fischel zweier medizinischer Vergleiche, die sich zum einen aus
der klinischen Psychologie, zum anderen aber aus der Bakteriologie bzw.
Viro logie herleiten : â[M]ir kommt das wie eine Hypnose vor, wie eine geis-
tige Infek tion ! Ja, Gerda kommt mir manchmal wie hypnotisiert vor !â (MoE
309) Eigen tĂŒmlich ist hier vor allem die Art des RĂŒckgriffs auf die in der ers-
ten HÀlfte des 20. Jahrhunderts fast allgegenwÀrtige Infektionsvorstellung :
Der gÀngige Infektionsdiskurs, der unter anderem die binÀre Opposition
zwischen schmarotzenden Bakterien und ausgebeuteten Wirtstieren impli-
ziert715, scheint nÀm lich geradezu auf den Kopf gestellt, indem Musil dessen
sonst xenophobe und rassistische StoĂrichtung716 offensichtlich konterkariert.
Die Subversion des Infektionsdiskurses begegnet auch an anderer Stelle im
Roman, wo von Hans Sepps antisemitischer Gruppe die Rede ist :
714 Ebd., S. 35.
715 Vgl. dazu die populÀrwissenschaftliche Aufbereitung bei Enzensberger : Parasiten. Eine genaue
Analyse der wissenschaftsgeschichtlichen HintergrĂŒnde findet sich in Weindling : Epidemics
and Genocide in Eastern Europe ; Jansen : âSchĂ€dlingeâ. Einen medizingeschichtlichen Abriss
gibt Dinges : Bedrohliche Fremdkörper. Musil bedient sich der einschlÀgigen Metaphorik auch
dann, wenn er seinen ErzĂ€hler berichten lĂ€sst, dass Hans Sepp seine âLehre in das Haus Fi-
schel einzupflanzen begannâ (MoE 554).
716 Insbesondere in Wien um 1900 war die âSchmarotzertheorieâ meist antisemitisch aufgeladen ;
vgl. Hamann : Hitlers Wien, S. 121 f. Zum diskursiven Kontext vgl. Bein : The Jewish Parasite.
Dazu ein einschlÀgiges Zitat aus einer Rede Hitlers vom 7. August 1920, deren Geist bald auch
das Programm der NSDAP bestimmte : âDenken Sie nicht, daĂ Sie eine Krankheit bekĂ€mpfen
können, ohne den Erreger zu töten, ohne den Bazillus zu vernichten, und denken Sie nicht,
daà Sie die Rassentuberkulose bekÀmpfen können, ohne zu sorgen, daà das Volk frei wird
von dem Erreger der Rassentuberkulose. Das Wirken des Judentums wird niemals vergehen,
solange nicht der Erreger, der Jude, aus unserer Mitte entfernt ist.â (Zit. nach Enzensberger :
Parasiten, S. 226 ; dort nicht genauer nachgewiesen.)
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208