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583âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
Trotz alledem war es so merkwĂŒrdig, woher der Geist dieser jungen Leute kam, wie
es das Auftreten einer neuen Krankheit oder das einer langen Trefferreihe im GlĂŒcks-
spiel ist. Als die Sonne des alten europÀischen Idealismus zu verlöschen begann und
der weiĂe Geist sich verdunkelte, wurden viele Fackeln von Hand zu Hand gereicht
â Ideenfackeln ; weiĂ Gott, wo sie gestohlen oder erfunden worden waren ! â und
bildeten da und dort den auf und nieder tanzenden Feuersee einer kleinen Geistesge-
meinschaft. So war in den letzten Jahren [âŠ] unter jungen Menschen auch viel von
Liebe und Gemeinschaft die Rede, und besonders die jungen Antisemiten im Haus
des Bankdirektors Fischel standen im Zeichen alles umfassender Liebe und Gemein-
schaft. Wahre Gemeinschaft ist das Wirken eines inneren Gesetzes, und das tiefste,
einfachste, vollkommenste und erste ist das Gesetz der Liebe. Wie schon bemerkt
worden, nicht Liebe im niederen, sinnlichen Sinn ; denn körperlicher Besitz ist eine
mammonistische Erfindung und wirkt nur trennend und entsinnend. (MoE 482 f.)
In diesen freilich nicht ohne Ironie formulierten Worten ĂŒber die verschie-
denen ideologischen Sekten, ihren forcierten Mystizismus und ihre histori-
sche Konjunktur vor dem Ersten Weltkrieg scheint eine partielle Analogie zu
Ulrichs SehnsĂŒchten auf, die nicht wegzuleugnen ist und die einerseits den
oben angedeuteten, positiv akzentuierten Aspekt von Hans Sepps âIdealis-
musâ bezeichnet (vgl. Tb 2, 1113), andererseits deutlich werden lĂ€sst, wie sehr
das irrationalistische Einheits- und ErlösungsbedĂŒrfnis der âChristgermanenâ
in einer damals allgemeinen diskursiven Gemengelage grĂŒndet, der sich auch
der Mann ohne Eigenschaften nicht entziehen kann. Der ErzÀhler betont hin-
sichtlich des VerhĂ€ltnisses Ulrichs zur völkischen âMystikâ wiederholt : â[E]r
hatte ja einiges VerstĂ€ndnis fĂŒr derlei Dingeâ (MoE 313). Hans Sepps âschein-
bar [!] durch nichts auszufĂŒllenden SĂ€tzeâ lassen Ulrich sogar âtrĂ€umen, wie
man ihnen einen wirklichen Inhalt geben könnteâ (MoE 557).733 Er wird also
von der gedanklichen âFunktionâ der Utopie einer funktionierenden Gemein-
schaft â wenn auch nicht von ihren âfalschen Inhaltenâ â durchaus angezogen,
wie schon in den Kapitelgruppen-EntwĂŒrfen der zwanziger Jahre seine Reak-
tion auf einen Liebesbrief Hans Sepps zeigt, den ihm Leo Fischel in denunzia-
torischer Absicht ausgehÀndigt hat (vgl. MoE 1498 f.).
Allerdings â und dieser Sachverhalt sei abschlieĂend doch hervorgehoben
â bemerkt Ulrich am Ende des erwĂ€hnten âkanonischenâ GesprĂ€chs mit Hans
Sepp wegwerfend, âwieviele Erlöser es heute schon gebe. Jeder bessere Ver-
733 Vgl. allerdings die ironische Subversion in der unmittelbaren Fortsetzung des zitierten Satzes :
âaber er fragte Hans bloĂ kĂŒhl, wie er es mit diesem Sichöffnen und dergleichen wohl in der
AusfĂŒhrung anstellen möchte ?â (MoE 557)
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Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208