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589âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
Aus diesen Worten spricht einerseits eine emphatische Aufwertung des
Wahns, der körperlichen Ein- und Zusammenstimmung, der Tat, des âgan-
zen Menschenâ, des Instinkts, der FĂŒhrung, des Glaubens und der Erlö-
sungshoffnung, andererseits eine radikale Verwerfung des modernen In-
tellektualismus743, ja des kritisch-wissenschaftlichen Denkens und seiner
Begleiterscheinungen ĂŒberhaupt.744 Ăhnlich wie sein Modell Klages und
etwa zeitgleich mit Heidegger bedient sich Meingast zur ErlÀuterung seiner
Begriffe wortgeschichtlicher Herleitungen, die vorderhand Evidenz erzeu-
gen, sich bei genauerem Hinsehen jedoch oft als Scheinetymologien ent-
puppen.745 So hat der Wortkern âlösenâ nach Auskunft des etymologischen
Wörterbuchs nichts mit âlockernâ zu tun746, wohingegen Meingasts Argu-
mentation sich selbst als assoziativ gelockert erweist. Und verfolgt man die
praktische Konsequenz seines Denkens an ihr Ende, so ist das Ergebnis eine
plane Apologie des Terrors. Die unverhohlen terroristische Losung, auf die
Meingasts denkerische BemĂŒhungen hinauslaufen, lautet ausdrĂŒcklich : âEr-
lösung der Welt durch Gewaltâ ! Eine konkrete Vorstellung, was darunter zu
verstehen sei, vermittelt etwa seine wiederum an den eugenischen Diskurs
gemahnende Forderung, man mĂŒsse Entscheidungen âgegen das Minderwer-
tige zugunsten des Höherwertigenâ fĂ€llen â so zumindest die Wiedergabe
Clarisses (MoE 921).
Clarisse selbst fungiert indes zumindest vorĂŒbergehend als leuchtendes
Beispiel der Aufwertung des âWahnsâ durch den Philosophen : So stellt er ih-
rer intellektuellen Bodenlosigkeit und leichtfertigen Moral ihren angeblichen
Mut entgegen, den er eindeutig positiv bewertet (vgl. MoE 833) â was inso-
fern entlarvend ist, als er die argumentative Grundlosigkeit ihrer ĂuĂerun-
gen selber klar durchschaut, wie er wenig spÀter offenbart, als er sich ihren
geistig-körperlichen Avancen verweigert.747 Ihm bleibt nicht verborgen, dass
743 Vgl. Bourdieu : Die politische Ontologie Martin Heideggers, S. 18, zur damals topischen An-
prangerung der âTyrannei des Intellekts und des Rationalismusâ.
744 Dass die âAttacke gegen die objektive Wissenschaftâ Gemeingut des faschistoiden Denkens der
Zwischenkriegszeit ist, zeigt Bourdieu ebd., S. 13 u. passim.
745 Vgl. auch folgende Stelle, wo Meingast eine allerdings zutreffende Etymologie entwickelt : âEr
hatte ihr und Walter tags zuvor erklĂ€rt, daĂ Knecht, knight dem Ursinn nach JĂŒngling, Knabe,
Knappe, waffenfĂ€higer Mann und Held bedeuteâ (MoE 781) ; dazu Duden. Etymologie, S. 338.
Nach Schneider : Marginalien zur Meingast-Episode, S. 251, Anm. 50, ist diese Passage direkt
auf Klagesâ Hauptschrift Der Geist als Widersacher der Seele zurĂŒckzufĂŒhren.
746 Vgl. Duden. Etymologie, S. 410.
747 Vgl. etwa folgende Passage des ZwiegesprĂ€chs zwischen den beiden : âMeingast schĂŒttelte den
Kopf. Verneinung war in ihm bei dieser verÀnderten und leidenschaftlichen Wiedergabe seiner
Worte, es war eine aufgescheuchte, beinahe Ă€ngstliche Verneinungâ (MoE 921).
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208