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600 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
doch umso umfassenderer ErklĂ€rungen775 und âgeistiger FĂŒhrerschaftâ776
ganz generell.
Abgesehen davon sei zuletzt eine weitere bezeichnende Analogie zwischen
Meingast und Ulrich nicht verschwiegen, die auf eine eminente Zeitsignatur
verweist, nÀmlich eine nicht ganz unproblematische Verwandtschaft zwischen
der Ablehnung des passiven âGeschehenlassensâ (âTun, was geschieht !â), das
Meingast als Wesensprinzip der von ihm abgelehnten âDemokratieâ ausmacht
(MoE 833), und Ulrichs Opposition zum geschehenden âSeinesgleichenâ und
dem bloĂen âGewĂ€hrenlassenâ, das er in der modernen Welt allenthalben kon-
statiert, ohne ihm aber mehr als eine radikale Verweigerungshaltung entge-
genzusetzen.777 Das Fazit dieses Kapitels besteht in mancher Hinsicht eher
in der Formulierung offener Fragen als in sich abgeschlossener Urteile : Zwar
ist Meingast fĂŒr Ulrich zweifelsohne ein âwiderwĂ€rtigerâ âSchwĂ€tzerâ, doch
zugleich âals Denker interessantâ, wie Clarisses Bruder Siegmund am Ende
des Kapitels unwidersprochen ergĂ€nzt (MoE 839) â und das eben nicht allein
als verabscheuenswĂŒrdiger Vertreter des widrigen Zeitgeistes und âFaschistâ
(MoE 1822 u. 1861), sondern eben auch als Romanfigur, die auf viele ihrer
Zeitgenossen unwiderstehlichen Zauber entfaltet â eine Gabe, die dem Mann
ohne Eigenschaften nicht in diesem AusmaĂ gegeben ist und die wohl auch
dessen Eifersucht auslöst. Ulrich sieht am Beispiel Meingasts die von Kretsch-
mer diagnostizierten Effekte eines ihm selbst nicht eigenen, auĂergewöhnli-
chen suggestiven Vermögens, das darauf hinauslĂ€uft, âdaĂ der eine Mensch
mit der besten Sachlichkeit und Logik seiner AusfĂŒhrungen nur ganz schwa-
che und der andere mit den fadenscheinigsten GrĂŒnden erstaunlich groĂe
775 Wie das Arbeitsheft 32 dokumentiert, sieht Musil die â[v]öllige ErklĂ€rung als schlechtes Zei-
chenâ, denn : âDas ErklĂ€rte ist dann völlig verödet, und es geht von dort nicht der schmalste
Pfad weiter.â (Tb 1, 967) TatsĂ€chlich entbehrt die âvöllige ErklĂ€rungâ jenes erkenntniskonstituti-
ven Moments der âDezentrierungâ, die nach Jean Piagets kognitiver Entwicklungspsychologie
die FĂ€higkeit bezeichnet, eigene Annahmen, Wahrnehmungen, Positionen und Theorien in
deren Bedingtheit und nur relativen GĂŒltigkeit zu erfassen ; vgl. etwa Piaget : Weisheit und
Illusion der Philosophie, S. 181. Als Versuche antimoderner âRezentrierungâ, der âSchaffung
einer neuen TotalitĂ€tâ, prĂ€sentiert sich dagegen Herwig Gottwald zufolge die âNeue Mytho-
logieâ Brochs und der konservativen RevolutionĂ€re bzw. jener faschistoiden Denker, die das
geschlossene Weltbild des Mythos âdem offenen Weltbild moderner Wissenschaftâ entgegen-
stellt ; einer Wissenschaft nĂ€mlich, âdie sich â zumindest âidealiterâ â als offene, undogmatische,
also kritisierbare prĂ€sentiertâ, wĂ€hrend der Mythos zwar âprinzipiell allesâ erklĂ€rt, âin seinem
Totalanspruch aberâ selbst ânicht kritisierbar, nicht relativierbarâ ist (Gottwald : Der Mythosbe-
griff bei Broch, S. 151).
776 Vgl. dazu Wolf : Geist und Macht, S. 431â434.
777 Vgl. dazu die (Meingast, Ulrich und sogar Musil allerdings zu stark nivellierenden) Bemerkun-
gen von Howald : Ăsthetizismus und Ă€sthetische Ideologiekritik, S. 337 f.
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208