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605âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
In gleichsam prĂ€stabilierter Harmonie zum Ă€uĂeren Erscheinungsbild sowie
zu seinem âwenig attraktive[n] Namenâ, der âKonnotationen des KrĂ€nklichen
und Minderwertigenâ enthĂ€lt790, ist SchmeiĂers Habitus unelegant, ruppig und
verklemmt. Dies kommt etwa darin zum Ausdruck, dass er Ulrich vor ihrer
nĂ€heren Bekanntschaft trotz des gemeinsamen Wohnhauses und der ĂŒber die
âAnstellungâ des eignen Vaters gestifteten Verbindung ânicht grĂŒĂte, sondern
verstockt wegsah, wenn er ihm begegneteâ (MoE 1454). Hier paaren sich
auf bezeichnende Weise Unsicherheit und Eigensinn791 â eine fĂŒr SchmeiĂer
charakteristische Verbindung, die auch in anderen Momenten zum Vorschein
kommt : So antwortet er auf Ulrichs verhaltenes Angebot einer Kooperation
zwischen Parallelaktion und Sozialdemokratie âmit Lippen, die sich vor Wohl-
gefallen an dem, was sie sagten, kaum von einander trennen konnten : âDie
Partei hat solche Abenteuer nicht nötig ; wir kommen auf unserem eigenen
Weg ans Ziel !ââ (MoE 1455)
Diese Sentenz ist in mehrerlei Hinsicht aussagekrÀftig : Zum einen verdeut-
licht sie SchmeiĂers eklatante, fĂŒr Musil offenbar typische linke Ăberheblich-
keit792, zum anderen wird in der dogmatischen Phraseologie und im pastora-
len Ton793 seines Sprechens exemplarisch vorgefĂŒhrt, wie der AnhĂ€nger eines
790 So Schwanitz : BĂŒrgerlicher Relativismus, S. 464.
791 Schwanitz zufolge bewirkt gerade SchmeiĂers âgesellschaftliche Unsicherheit eine stĂ€ndig ag-
gressive Reizbarkeitâ (ebd., S. 464).
792 Vgl. etwa den Eintrag in Musils Arbeitsheft 8 zu Josef Luitpold Stern, einem fĂŒhrenden Mann
der Wiener Volksbildung (dazu Corino : Musil [1988], S. 270) : âDr. Stern : Der Zweck heiligt
nicht das Mittel, heiligt das Mittel, das Mittel wird als das Letzte angebetet : Entwicklung zum
Politiker. Die Parteischulung, der Drill der Masse zum SelbstgefĂŒhl, die Suggestion mit einem
MarxbĂŒchel den SchlĂŒssel zu aller Geistigkeit in der Hand zu haben, ist sehr viel wert. Die
nÀchste Stufe bedeuten die leuchtenden Augen, wenn man an den Bildungseifer der Arbeiter
und der Jugendlichen denkt [âŠ] ! Auf der dritten Stufe teilt man die Wissenschaften in Natur-
und Gesellschaftswissenschaften und leugnet jede andre Möglichkeit. Das SelbstgefĂŒhl, das der
Arbeiter durch den Marxismus erhĂ€lt, wird hier zur jĂŒdischen Arroganz.â (Tb 1, 416)
793 Um den salbungsvollen Ton der âGewerkschaftspfaffenâ zu studieren, hat Musil in seinem Ar-
beitsheft 8 eine Passage aus dem unsignierten Artikel Verbandsbeitragsschmerzen exzerpiert,
den er in der Zeitschrift Der Eisenbahner. Centralorgan des österreichischen Eisenbahn-Personals
(1.5.1920, Nr. 9, S. 4) fand : âIhr guten Leute [âŠ] verdeckt [âŠ] nur mĂŒhsam den eignen Klein-
geist im gewerkschaftlichen Opfermut. Wer die echte und rechte Ăberzeugung hat, der muĂ
auch einsehen, dass ⊠Das nachzuweisen ist nicht schwer und deshalb soll jeder, der es bis
zum kleinsten Herzenswinkel ehrlich und aufrichtig mit seiner Gewerkschaft meint, hinausge-
hen und mit beredter Zunge lehren, daà zum Gewerkschaftskampf Opfer gehören und jeder
dieses Opfer mit Freuden darbringen muĂ, daĂ seine Gewerkschaft diese vermehrten Mittel zu
Nutz und Frommen der Mitglieder wieder verwendet !â (Tb 1, 372 ; vgl. Tb 2, 233, wo auch die
Auslassung aus dem Original nachgetragen wird) In seinen Notizen zur SchmeiĂer-Figur hat
Musil mehrfach auf dieses Exzerpt verwiesen und wollte die Zitate direkt in Figurenrede ĂŒber-
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208