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606 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
sozialistischen Kollektivismus das zumindest vorderhand persönliche Angebot
Ulrichs durch den Verweis auf das Kollektiv der Partei sofort zu einer Gesin-
nungsfrage erhebt und sich somit einer individuellen Antwort â die unter Um-
stĂ€nden eigenes Nachdenken erfordert hĂ€tte â entbindet. Ein pikantes Detail
am Rand legt freilich auf dekuvrierende Weise offen, dass auch SchmeiĂers
scheinbar allein am Kollektiv ausgerichtete Argumentation durchaus von in-
dividuellen Impulsen affiziert ist : Denn erst seitdem er âwider Willen Agathe
von ferne bewunderteâ, âhaĂte er auch den athletisch gebauten Ulrich, den er
frĂŒher wenig beachtet hatteâ (MoE 1455) â und legt seither ein so feindliches
Gebaren an den Tag, das sich eben nicht allein auf ideologische Gegnerschaft
stĂŒtzt.794 In Ăbereinstimmung mit seiner âGefĂŒhlstheorieâ fĂŒhrt Musil hier am
Beispiel des Ressentiments performativ die konstitutive Rolle von Affekten fĂŒr
kognitive Prozesse vor Augen.
Der Ideologe sucht seinen vermeintlichen âGegnerâ (MoE 1455) mit abs-
trakten und reichlich plakativen polemischen Formeln zu fassen, von denen
er â in alleiniger Hypostasierung des âWirklichkeitssinnsâ â auf dessen âEigen-
schaftenâ rĂŒckschlieĂen zu können glaubt : Ulrich sei ja bloĂ âein sozialroman-
tischer BĂŒrger, bestenfalls ein Individualanarchist !â (MoE 1455) Dies ist nicht
völlig aus der Luft gegriffen795, doch ist es auch mit SchmeiĂers terminologi-
scher und ideologischer RadikalitÀt nicht so weit her, als es den Anschein hat
â wie folgender unfreiwillig komische Ausruf zeigt : âErnsthafte RevolutionĂ€re
denken nicht an blutige Revolutionen !â (MoE 1455) Mit seiner vergleichs-
weise gemĂ€Ăigten Haltung steht SchmeiĂer in der hĂ€ufig als âzentristischâ
und âpraktizistischâ, jedenfalls als kompromisslerisch inkriminierten Tradi-
fĂŒhren (vgl. Tb 2, 233 f. u. 1093) ; er plante, seinen linken Ideologen auch selbst im Eisenbahner
sowie in anderen GewerkschaftsblÀttern schreiben zu lassen (vgl. Tb 1, 381, u. Tb 2, 234, sowie
MoE 1518 f.).
794 Die daraus resultierende innere âZerrĂŒttungâ SchmeiĂers sowie seinen damit einhergehenden
Verlust an âSicherheitâ skizziert Musil genauer in besagtem Kapitelentwurf âFĂŒr und inâ aus
den mittleren zwanziger Jahren : âEr kĂ€mpfte gegen die Empfindungen, welche diese Frau in
ihm hervorrief, welche er wegen ihrer groĂbĂŒrgerlichen Herkunft gern verachtet hĂ€tte.â (MoE
1634 f., nach M II/1/83)
795 In den frĂŒhen EntwĂŒrfen zur Auseinandersetzung mit SchmeiĂer redet Ulrich sich tatsĂ€chlich
auf die âExterritorialitĂ€tâ des Intellektuellen hinaus und erweist sich damit noch als romanti-
scher Nietzscheaner : âUlrich versucht zu sagen : Ich bin weder bĂŒrgerlich, noch unbĂŒrgerlich.
Ich habe keine Partei (vielleicht : auĂer der des Genies ?). Es ist wahr, daĂ ich so denke, weil
es mir gut geht ; trotzdem ist auch wahr, was ich denke. Ihre Idee wird in 100 Jahren eine
hinderliche Wand sein ; ich möchte eine Menschheit mit beweglichen WĂ€nden.â (M II/1/22)
Bezeichnenderweise hat Musil diese affirmative Berufung auf eine asoziale Geniemoral spÀter
verworfen, hingegen das hier nur angedeutete fundamentalsoziologische Apriori schÀrfer her-
ausgearbeitet.
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208