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608 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
Sensorium fĂŒr die Musils Hauptfiguren so wichtige Frage nach dem âande-
ren Zustandâ800 â und damit fĂŒr die ânichtratioĂŻdeâ Seite menschlicher Exis-
tenz â, obwohl er doch selbst als uneingestandener Utopist und Prophet auf
eine innerweltliche âErlösungâ der Menschheit hinarbeitet. Kunst ist in einem
solchen ideologischen Rahmen allenfalls und ausschlieĂlich als Mittel zu ei-
nem ĂŒbergeordneten, a priori festgelegten Zweck denkbar. Selbst weniger ela-
borierte Formen nicht unmittelbar zweckgeleiteter Kommunikation bleiben
dem ostentativen âTrĂ€ger des Rationalismusâ (M II/1/19) immer suspekt :
âNiemals nahm er darum auch eine der Einladungen Ulrichs an und lieĂ sich
höchstens mit Tee und Zigaretten bewirten wie in russischen Romanen.â
(MoE 1456) Die âSoziale Frageâ gilt dem heimlichen Romantiker als âdas eins
[sic] und allesâ (MoE 1456), woran sĂ€mtliche andere Fragen des menschlichen
Lebens zu messen sind.
Ulrich hingegen â das sei zu Differenzierungszwecken bereits hier ange-
fĂŒhrt â liebt es mehr oder weniger aus spielerischer Freude, SchmeiĂer âzu
reizen, obwohl diese GesprĂ€cheâ eingestandenermaĂen âvöllig sinnlos warenâ
(MoE 1456). Hier scheint eine interesselose Lust an der agonalen gedankli-
chen Auseinandersetzung auf, ein gleichsam spielerisches SchÀrfen des eige-
nen Denkvermögens ohne weitergehende Hintergedanken ; Interesselosigkeit
also hinsichtlich der sozialen Interessen bzw. der FĂ€higkeit einer vorrĂŒberge-
henden Sistierung dieser Interessen in einem intellektuellen Spiel, das nicht
beeintrÀchtigt wird von der Dringlichkeit der gesellschaftlichen Konflikte, mit
einem Wort : im Sinne von Bourdieus soziologischer Bestimmung der scholé.
Gemeint ist damit jene nicht allen Akteuren gleichermaĂen zur VerfĂŒgung
stehende âfreie[ ], von den ZwĂ€ngen dieser Welt befreite[ ] Zeit, die eine freie,
befreite Beziehung zu diesen ZwĂ€ngen und zur Welt ermöglichtâ801. Bisweilen
S. 272, mit Blick auf den âmarxistische[n] Physiker Fritz Zernerâ erwĂ€hnt, in dem er das wich-
tigste biografische Vorbild fĂŒr die Romanfigur SchmeiĂer sieht. Gerade deshalb habe Musil die
demnach âparadoxe Gestaltâ Zerners fĂŒr âparadox genugâ erachtet, um sie in die Sammlung von
âZeitfiguren. 1920â aufzunehmen ; vgl. dazu im Arbeitsheft 9 den Eintrag âZernerâ (Tb 1, 427 f.).
800 Vgl. wiederum besagten Kapitelentwurf âFĂŒr und inâ aus den mittleren zwanziger Jahren :
âAber wenn er sich vergaĂ, nachsann, was diese junge Frau, die, wie er wuĂte, ihren Mann
verlassen hatte, hier tun möge, und ohne es zu merken, von seiner Phantasie an einen fernen
Punkt gefĂŒhrt wurde, wo Agathe ihre Arme um die HĂŒften des cand. phil. Schmeisser schlang,
war ihm zumute wie einem Wesen, das bisher nur in einer FlÀche gelebt hat und zum ersten-
mal das Geheimnis des Raums kennenlernt. Prof. Meingast wĂŒrde gesagt haben, dies sei der
gleiche Unterschied, wie wenn man immer fĂŒr Gott gelebt habe, aber plötzlich in Gott zu le-
ben anfange â â wenn Prof. Meingast solche Gedanken sich gestattet hĂ€tte.â (MoE 1635, nach
M II/1/83)
801 Bourdieu : Meditationen, S. 7.
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Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208