Page - 618 - in Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
Image of the Page - 618 -
Text of the Page - 618 -
618 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
Die zentralen Motive der kanonischen Romanfigur sind hier bereits in nuce
enthalten : ein forcierter Antirationalismus als zeit- und milieutypischer Aus-
druck des Generationenkonflikts, der nicht zuletzt damit zusammenhÀngende
jugendbewegte, jedenfalls sichtlich konjunkturelle Glaube an die ânatĂŒrlicheâ
GĂŒte des Menschen, den Musil in die aus einem Buchtitel Leonhard Franks
entliehene emphatische Formel âDer Mensch ist gut !â kleidet833, aber auch
die aus seiner Sicht offenbar wenig schmeichelhafte Rolle Feuermauls als
âLiebling kunstsinniger Frauenâ (M I/6/49), die sich spĂ€ter in der Protektion
des Dichters durch Frau Professor Melanie Drangsal834 niederschlagen wird.
Die abschlieĂend skizzierte Lesung Feuermauls in Diotimas Salon wird am
Ende des kanonischen Romantexts freilich nur in Aussicht gestellt (vgl. MoE
1041), aber nicht mehr ausgefĂŒhrt. Unter den vorgetragenen Werken hĂ€tte
den frĂŒhen Notizen zufolge im Anschluss an eigene âGedichteâ eine Rede mit
âvielen Zitate[n] aus dem alten Testamentâ (M I/6/49) vorkommen sollen,
wofĂŒr Musil auf einem eigenen Blatt B 100 unter der Ăberschrift âJĂŒdisch-
vorchristliche Ethikâ (M I/6/50) eigens âbiblische Zitate gesammelt und per
Bleistift-Anmerkung der Lesung zugewiesenâ hat.835 Schon hier wird deutlich,
dass Feuermaul im Roman nicht die utilitaristische, sondern die religiöse so-
wie â umfassender â die gesinnungsethische Strömung des damaligen Pazifis-
mus vertritt.836
Etwa zeitgleich mit dem zitierten Erlöser-Entwurf von 1921 nennt Musil
in seinem Arbeitsheft 21 mit Blick auf den damals geplanten Panama-Roman
fĂŒr Agathes Gatten reserviert. Auch den expliziten Verweis auf die jĂŒdische Herkunft des pa-
zifistischen Dichters hat er spĂ€ter getilgt â offenbar um AnklĂ€nge an den nationalistischen und
rassistischen Antipazifismus zu vermeiden ; vgl. dazu Fanta : Ah, Fm : Doppelschichtung, unten
jĂŒdisch, S. 94 u. 98 f.
833 Vgl. Franks Novellensammlung Der Mensch ist gut (1917/18) ; dazu Strutz : Politik und Literatur,
S. 16, sowie den Kommentar Frisés (Tb 2, 262 f., Anm. 324).
834 Es bleibt unerfindlich, ob es sich hier nur um einen Spottnamen oder um einen âwirklichenâ
Namen im fiktionalen Kontext handelt. Gegen Ende des kanonischen Textes ergÀnzt Tuzzi die
Nennung der Drangsal mit dem Zusatz : âwie sie meine Frau nenntâ (MoE 1005). Daraus ginge
eigentlich hervor, dass Frau Drangsal auch im Romankosmos nicht âwirklichâ so heiĂen kann.
Das historische Modell fĂŒr Melanie Drangsal ist Alma Mahler-Werfel, die Witwe Gustav Mah-
lers und spÀtere Frau Franz Werfels ; vgl. Tb 2, 761 f., Anm. 91 ; Strutz : Politik und Literatur,
S. 92.
835 Fanta : Die Entstehungsgeschichte des âMann ohne Eigenschaftenâ, S. 237. Als historischen
Hintergrund identifiziert Strutz : Politik und Literatur, S. 91 f., Werfels ZĂŒrich-Reise von 1918
sowie die dort veranstaltete Lesung von Gedichten und der Rede an die Arbeiter in Davos, was
zu seiner Entpflichtung aus dem k. u. k. Kriegspressequartier fĂŒhrte.
836 Vgl. den Ăberblick bei Fuchs : Geistige Strömungen in Ăsterreich, S. 255 f.
back to the
book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208