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652 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
nehmen, was eine auf der Grundlage eigener Reflexion getroffene und damit
emanzipierte Entscheidung fĂŒr oder wider ausschlieĂt :
Es zeigte sich [âŠ], daĂ sie die TĂ€tigkeit einer LiedersĂ€ngerin fĂŒr einen notwendigen
Teil des Lebens hielt und alles GroĂe, was sie von Kunst und KĂŒnstlern je gehört
hatte, damit verband, so daĂ es ihr durchaus richtig, erzieherisch und vornehm vor-
kam, allabendlich auf eine kleine, von Zigarrendunst umwölkte BĂŒhne hinauszutre-
ten und Lieder vorzutragen, deren ergreifende Geltung eine feststehende Sache war.
NatĂŒrlich scheute sie dabei, wie es sein muĂ, um das AnstĂ€ndige zu beleben, auch
keineswegs vor einer gelegentlich eingestreuten UnanstĂ€ndigkeit zurĂŒck, aber sie war
fest ĂŒberzeugt, daĂ die erste SĂ€ngerin der kaiserlichen Oper genau das gleiche tue wie
sie. (MoE 23)
Sichtbar wird solcherart ein gewaltiger sozialer und intellektueller Unter-
schied zwischen Ulrich und ihr, was ihr selbst offenbar gar nicht richtig be-
wusst ist930 â umso mehr aber ihm, der âdas öffentliche Auftreten mit Leonaâ
deshalb zu vermeiden sucht (MoE 24). Angesichts dieses Verstecktwerdens
sieht sie sich nicht zu Unrecht âgenau so miĂbraucht wie eine Frau, die be-
merkt, daĂ sie nicht um ihrer Seele willen geliebt wirdâ (MoE 24). Ulrich
behandelt sie generell eher wie eine JagdtrophÀe als wie einen Menschen :
Er beschlieĂt, âsie Leona zu nennenâ, obwohl sie doch mit richtigem Namen
Leontine heiĂt (MoE 21 f.), und legt so die Assoziation an eine Löwin nahe.
Die spöttische Namensgebung Ulrichs hat ihr Komplement in seiner gene-
rellen Haltung : Leonas âBesitzâ erscheint ihm âbegehrenswert wie der eines
vom KĂŒrschner ausgestopften groĂen Löwenfellsâ (MoE 22), was hinsichtlich
einer Geliebten nicht wie ein sonderlich groĂes Lob anmutet. Wenn der Er-
zĂ€hler dann noch maliziös formuliert, dass Ulrich âihre FĂŒtterung gewöhnlich
in sein Hausâ (MoE 24) verlegt habe, wird die Assoziation eines Haustieres
endgĂŒltig verfestigt. Am Beispiel dieser auffallend schematisch gezeichneten
Beziehung wird Ulrichs aggressiv-mÀnnlicher Blick auf Frauen veranschau-
licht, mit dem er sie in erster Linie als Beute und Sexualobjekt wahrnimmt.
Die â frei nach KojĂšve â traditionell genuin dem mĂ€nnlichen Part zukom-
930 Im Modus âerlebter Redeâ legt Musil die soziale und intellektuelle BeschrĂ€nktheit von Leonas
Perspektive offen : âSie war schön und eine SĂ€ngerin, sie brauchte sich nicht zu verstecken, und
jeden Abend hingen an ihr die Begierden einiger Dutzend MĂ€nner, die ihr recht gegeben ha-
ben wĂŒrden. Dieser Mensch aber, obgleich er mit ihr allein sein wollte, brachte es nicht einmal
fertig, ihr zu sagen : Jesus Maria, Leona, dein A⊠macht mich selig ! und sich den Schnurrbart
vor Appetit zu lecken, wenn er sie bloĂ ansah, wie sie es von ihren Kavalieren gewohnt war.â
(MoE 24)
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208